2010-12-26

postweihnachtliche darm- bzw. eulenspiegelung

zwei themen dominieren ein- und ausdrücklich die weihnachtsfeiertage:
1. der weihnachtsbraten
2. die weihnachtsbratenverdauung

in catalunya wurden dieser zusammenhang und seine bedeutung früh erkannt und seit dem 17. jahrhundert mit dem (1) 'tió de nadal' oder 'caga tió' und der figur des (2) 'caganers' entsprechend gefeiert - hier warten die kinder weder auf das christkind noch auf den weihnachtsmann, sondern auf kackende gestalten:


(1) der 'kackende holzscheit' (bzw. nimmt man 'tío' spanisch - der kackende onkel) wird über weihnachten antropomorphisiertes familienmitglied, von 8.12. bis 24.12. gefüttert und zärtlich mit einer decke gewärmt, auf dass er wachse und gedeihe. am 24. oder 25. verlangt die natur ihren tribut und des tíos großes geschäft einige aufmerksamkeit: singend und mit stöcken auf ihn einschlagend wird ihm zur ausscheidung verholfen, bis er sich der geschenke mit einem großen furz entledigt - das geht oft so lange, bis er heringe ausscheidet oder uriniert, dann hat der segen ein ende. wer das nicht glaubt, konsultiere youtube und memoriere demütigst die folgenden verse:
caga, tió (scheiß, tió) / d'avellanes i de pinyó (haselnüsse und pinienkerne) / pixa vi blanc (piss weißwein) / de les festes de nadal (zum weihnachtsfest). / caga, tió (scheiß, tió) / caga, tió (scheiß, tió) / si no vols cagar (wenn du nicht scheißen willst) / et donaré un cop de bastó (werde ich dich mit einem stock schlagen).

(2) die defäkations-krippenfigur des 'caganers' gehört zum fixen inventar der weihnachtlichen nativitäts-szenen. zumeist in der ecke, immer aber als essentieller bestandteil, kotiert da ein gratulant. meine lieblingserklärungen für seine rolle sind: "the caganer represents the idea that god will manifest himself when he is ready, without regard for whether we human beings are ready or not." und: "the caganer was the most mischievous and out-of-place character of the otherwise idyllic landscape; he was the "other", with everything that entails, and as the "other", was accepted, in a liberal vein, as long as he did not aim to occupy the foreground. the caganer represented the spoilsport that we all have inside of us, and that's why it is not surprising that it was the most beloved figure among the children and, above all, the adolescents, who were already beginning to feel a bit like outsiders to the family celebration." (zitiert nach wikipedia, dort übersetzt von den amics del caganer)

wunderschöne worte dazu auch von unserer katalanischen außenkorrespondentin flo l.:* "ich war überrascht, dass an weihnachten in barcelona plötzlich alle vom 'kacken' reden, vielleicht ist auch sinnbildlich die verdauung des vergangenen jahres gemeint. letztendlich zielt das katholische katalonien auf vergebung. die reinigende verdauung. wenn nicht an weihnachten, wann dann?"

also genieren sie sich nicht. keine scheu vor konsistenzrapp(b)orts. am abort sind wir allein gemeinsam. fäkalinteresse verspricht seelische erleichterung - schon der kleine maulwurf wollte wissen, wer ihm auf den kopf gemacht hat. am besten also, wir finden gleich einen künstlerischen zugang zur ureigenen produktivität, wie das etwa manzonis merda d'artista (1961) ebenso wie wim delvoyes cloaca (2000) oder mccarthys complex shit (2008) vorführen.

Wim Delvoye, Cloaca (2000) | Piero Manzoni, Merda d'Artista (1961) | Paul McCarthy, Complex Shit (2008)

selbst-referentialität ist dem kotkunstdiskurs in die wiege gelegt, deswegen macht er auch so großen spaß ('dieses werk ist doch scheiße!' 'das kann doch jeder!'). und auch was die sprinkle brigade unter dem motto 'just leave it. we got it' mit hundekot anstellt, ist ebenso komisch wie galleriewürdig.
weiterführende gespräche unter dem abnadelnden tannenbaum könnten sich mit den etymologischen zusammenhängen von sessel-kot-stuhl beschäftigen. damit, was konnotativ passiert zwischen 'that's shit' und 'that's the shit!' und ob aus vergangenheitstopos-gründen aus verdautem seltener die zukunft gelesen wird, als aus dem relativ unpersönlichen teesud. stellen sie sich unbedingt auch folgende frage: wieso kotieren wir in klaustrophobischen kleinsträumen? doch bloß hoffentlich nicht um der alliteration willen! mit erschrecken ist festzustellen, dass wir just in bezug auf den so früh erkämpften frei- und privatraum unserer gesellschaft nicht einmal beinfreiheit fordern. und dass ausscheidungs- und unabhängigkeitsdiskurs intrinsisch verwoben sind - man denke an den vorgang des trockenwerdens in der kindheit, die emanzipation von zäpfchenmedikament und analer fiebermessung und den zeitpunkt der erschlossenen, mama-unbegleiteten privatsphäre 'wc' - das sollte doch auch räumlich honoriert werden, n'est-ce pas?

aber um den z(k)otigen späßen unbedingte wissenschaftliche relevanz zu bescheinigen: passend zur feiertagsthematik ein paar auszüge aus meiner seminararbeit der älteren deutschen literatur zu till eulenspiegel mit dem unbedingt verführerischen titel:

„Er verkouft ihn seins Trecks für Prophetenbeer“
Fäkalmotivik und Grobianismus in Dyl Ulenspiegel


Die grobianischen Schwänke in Dyl Ulenspiegel sind „als die ältesten überlieferten Schwänke belegt“ und offenbaren demnach einen „Ur-Eulenspiegel“ (Wodraschka 2007, S. 29.). Bei Wunderlich heißt es sogar:

Der Grobianismus, d. h. die Zurschaustellung des Unflätigen, Schmutzigen und Ekelerregenden in der Betonung gerade der niedrigsten Körperfunktionen des Menschen, gehört ja zu den auffallendsten Kennzeichen des Volkbuches von Ulenspiegel, unterscheidet es, was die Häufung derartiger Motive betrifft, von allen übrigen Schwankromanen und ist auffallend selbst für eine Zeit, von der Brant einmal gesagt hat, sie habe sich Sankt Grobian als neuen Heiligen erwählt. (Wunderlich 1979, S. 121f.)
Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der skabrösen Thematik einige befremden mag, ist möglicherweise Grund für die spärliche Bearbeitung der Schwanksammlung in dieser Hinsicht. Die Untersuchungen zu skatologischen Elementen beziehungsweise der Fäkalmotivik und anderen Veräußerlichungen des Körperlichen in Dyl Ulenspiegel beschränken sich auf einzelne Artikel, die vor allem im Jahrbuch des Freundeskreises Till Eulenspiegels e. V. erschienen sind. Eine Systematisierung der betreffenden Historien ist in diesem Rahmen bisher nicht erfolgt, dies versucht die vorliegende Arbeit nachzureichen. Fakt ist, dass der überwiegenden Anzahl grobianischer Schwänke bisher nicht durch intensive Forschungsarbeit Genüge getan wurde und auch ganz allgemein angesichts ihrer Bedeutung für die Schwanksammlung ein etwaiges Gefühl von Befremdlichkeit am falschen Platz zu sein scheint.

mit unbedingtem stolz verweise ich hiermit auch auf eine tabelle wie sie die welt noch nicht gesehen hat: ein vollständiges verzeichnis der fäkalhistorien und grobianischen elemente im dyl ulenspiegel zur grundlage systematischer skatologie-analysen - done, of course, by katharina serles. (auf anfrage erhältlich ;)

Für die Schematisierung wurde zunächst quantitativ gearbeitet, d. h. es wurden jene Historien ausgewählt, die grobianische Bilder beinhalten: Dazu gehört die Beschreibung und der Einsatz des Gesäßes, der verschiedensten Ausscheidungsprodukte und Körpersekrete und der damit verbundene Einsatz von Purgatorien, die verschiedenen Nennungen des Aborts, Inzidenzien von Koprophagie und Kotmantik und ferner Besudelungen durch Fallen in den Dreck. Auch auf die Holzschnitte wurde Rücksicht genommen und ihre motivische Aufnahme eben genannter Topoi dokumentiert. Für die qualitative Analyse wurde
darüber hinaus notiert, in welchen Fällen der grobianische Akt als Bestrafung durchgeführt wird, ebenso, wann dies textimmanentes Lachen bewirkt. Die Ergebnisse wurden schließlich mit den seit Peter Honeggers Fund des Druckes von 1510/1511 aktualisierten und am häufigsten verwendeten Historienschematisierungen verknüpft, beziehungsweise die beiden Raster übereinandergelegt, um auch über die einzelnen Abschnitte Aussagen treffen zu können.

wer sich jetzt übrigens wundert, derartige skabrositäten aus seiner kinderbuchlektüre des eulenspiegels nicht zu erinnern - JA, die wurden tatsächlich in allen mir bekannten bearbeitungen zensiert, man ging von veränderten humor- und rezeptionsverhalten aus. genau dazu noch ein letzter auszug meiner arbeit zum berühmt-berüchtigten '2 girls and 1 cup'-video:

Angemerkt sei an dieser Stelle, dass 2007 ein koprophages Video im Internet Furore machte, dessen Faszination aus eben jener Mischung von Ekel und Komik resultierte, die für den Ulenspiegel so oft als unmöglich bezweifelt wurde: „2 Girls and 1 Cup“, ein skatologischer Porno, wurde binnen kürzester Zeit zum Internet-Meme: Von eigenen Songs (vgl. „2 Girls and 1 Cup Song“ des kanadischen Comedians Jon Lajoie), populärkulturellen Referenzen (vgl. die Parodie des Sängers John Mayer oder die Referenz auf das Video in der Episode „Back to the Woods“ von Family Guy), bis zur Untersuchung in einer Vielzahl kulturwissenschaftlicher Aufsätze existieren zahlreiche Bearbeitungen des Phänomens. Auf YouTube lassen sich mittlerweile über 5000 'Reaction-Videos' ansehen, die das Herzstück der Popularität des Videos darstellen: Die User schneiden hier live (manchmal mehr oder weniger inszeniert) ihre fasziniert-angeekelt-amüsierten Reaktionen auf das Video mit. Was dieses Phänomen so interessant für unseren Kontext macht, ist einerseits der zeitgenössische Beweis des komischen und populären Potentials von Skatologie, andererseits auch der Beleg für eine Vorrangigkeit und Wirkmacht der Wirkungsästhetik: Soll Obszönität komisch sein, bedarf es der bis zu einem gewissen Grad gleichzeitig implizierten Reaktion – ob sich nun das Opfer sichtlich ekelt oder jemand etwa intradiegetisch lacht. Auf diese Weise werden auch im Ulenspiegel komische 'Markierungen' vollzogen.

damit haben sie wohl jetzt genug zu verdauen.

quellen: Wodraschka, Eva: Tabu und Tabuwandel fäkalischer Motive am Beispiel des Straßburger Eulenspiegelbuches und der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 47 (2007), S. 29. // Wunderlich, Werner: Eulenspiegel-Interpretationen. Der Schalk im Spiegel der Forschung 1807-1977. München: Wilhelm Fink 1979, S. 121f.

*überhaupt: specials thanks for those precious catalonian fun facts to florine, soren and his mum. bon nadal i feliç any nou!

2010-12-24

rohes freimachen!

2010-12-17

ginka steinwachs’ berliner trichter - berliner bilderbogen nachgehen

ein ambula-litera-torium oder:
eine literaTOUR* von katharina serles
berlin, 01.12.2010


textzitate aus: steinwachs, ginka: berliner trichter - berliner bilderbogen. wien: rhombus verlag 1979. ['bt' = berliner trichter, 'bb' = berliner bilderbogen]





*mit dank an stephanie serles für die wortspielerische anregung

2010-12-15

mund auf der zunge zergehen lassen

wenn sie jetzt bitte den
mmmmmmuuunnnddd
aaauufmachen würden?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa.


sehr schön! jetzt können die gedanken fließen (fernab von diplomarbeits-professionalitäten): mit 17cm spannweite besitzt francisco domingo joaquim den weitesten mund der welt. gratulation. von mund zu mundus (lat. welt) sind es also räumlich 17cm oder, wem das nicht recht munden will, zeitlich viele jahre zurück ins 17. jahrhundert (wo wir dem theatrum mundi begegnen, hallo!).

Auff den mund [auf! den mund!]
MUnd! der die seelen kan durch lust zusammen hetzen /
Mund! der viel süsser ist als starcker himmels=wein /
Mund! der du alikant des lebens schenckest ein /
Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schätzen /
Mund! dessen balsam uns kan stärcken und verletzen /
Mund! der vergnügter blüht / als aller rosen schein.
Mund! welchem kein rubin kan gleich und ähnlich seyn.
Mund! den die Gratien mit ihren qvellen netzen;
Mund! Ach corallen=mund / mein eintziges ergetzen!
Mund! laß mich einen kuß uff deinen purpur setzen!
christian hoffmann von hoffmanswaldau (1616-1679)

genau dort holt uns ginka steinwachs ab, wenn sie ein gaumentheater des mundes entwirft: in anlehnung an schillers moralisches theater vernachlässigt sie ein m, das ohnehin bereits in mund enthalten is(s)t, und macht daraus das oralische theater. dabei wird der mund und nicht das auge „organ von welterfahrung“ - gertrude stein lässt sie dazu sagen: "mit dem mund fängt alles an. ich nehme welt mündlich" (steinwachs, ginka: stein, wachs! wien: passagen 2005, s. 47). oralisches theater bedeutet auch: sprache ist speise. sprache wird zerkaut, eingespeichelt, im zungenschlag geformt, importiert und exportiert, und darf auf gar keinen fall fad schmecken, frei nach den drei l: ludisch lullisch lukullisch (du kennst das prinzip schon von den drei s des ü-eis: spiel spaß und spannung).



der mund als faszinosum, die oralische passion statt regression - dem leser, der leserin geht bei steinwachs bestimmt zumindest der mund auf, bleibt offen stehen wo mund zu welt verDICHTET wird.

dass steinwachs mehr will als bloß eine tomate, trennt sie von samuel beckett. und trotzdem ist er ihr in sachen mund näher als gedacht: ebenfalls in den mundfertigen 70ern schrieb er 'not I', ein theaterstück, dass alleine den mund zu wort kommen lässt - hier die zweite inszenierung mit billie whitelaw als 'mouth' (1973):



wird der mund bei beckett von allem losgelöst auf eine bühne gestellt, wird er bei steinwachs selbst zur bühne und der zuschauerraum zum mund: "von den rängen [...] hängen geschmacksknospen purpurschneckenrot. das zäpfchen ein lüster. auf den stufen weicher, roter zungenteppich. die bühne hinter zähnen" (steinwachs, ginka: stein, wachs! wien: passagen 2005, s. 67). ein solcher bühnenmund (allerdings nicht das originale gaumentheater des mundes) ist in einem ausschnitt aus karin bandelins schönem kurzfilm 'ginka steinwachs' (praun productions 2010, 9:40 min) zu sehen.

wenn sie jetzt bitte den
mmmmmmuuunnnddd
zzzuuumachen würden?
mmmmmmmmmmmm.
vielen dank!


ps: merkst dus auch? hiermit als fake gekennzeichnet. patent: originkalzitat. g.s. plosiv ist k.s.

2010-12-14

vorsicht, nicht knicken (fotos - porzellan)

[INDIE magazin No 28]

Belichtungsblinzeln. Musik liegt im Entwicklerbad der Fotos-Dunkelkammer. In Lösung schwebend fügen sich erste Schatten zu einem Neuen zusammen, aus gleißendem Nichts erscheinen zuerst Töne dann Bilder. Und wie aus dampfendem Nebel, aus einem verschwitzten Fiebertraum, steigt „Porzellan“, das 3. Album, noch schwer von der Nacht, vollgesogen mit erträumten Klängen und bildhaft wie noch nie. Es ist jetzt Musik, die ein wenig Mythos zurückgibt: Sie schwillt aus dem Sphärischen an, verweilt dröhnend Shoegaze-entrückt, erinnert an Steve Reich und Brian Eno, knistert im Hall der Vergangenheit – und zer-schallt wieder in bodenhaftendem Powerpop. Die Sicht auf den Grund bleibt bei all der technischen Rafinesse immer glasklar, manchmal erscheint der Fotos-Sound regelrecht nüchtern-nackt. Die haptischen Texte strahlen schneeweiß, blutrot und rabenschwarz, stecken Insekten auf Nadeln, essen Papier und schmecken betaute Haut. Vorgetragen von Tom in verführerisch einsilbigen Endreimen, english-infused und in Gänsehaut -Tonlagen und -Manierismen. „Gibt es ein Wort das trifft?“ – Die Fotos entwickeln einen morbiden Minimalismus der sich gefühltermaßen profaner Beschreibung entzieht. Musik ins Stopp- und Fixierbad. Licht an. Auf dem Foto: ein Porzellan-Epitaph für begrabene Dämonen.

nicht verlaufen (maps & atlases - perch patchwork)

[INDIE magazin No 28]

Großtantendidaktik besagt: Es lohnt sich den verschlungenen Weg zu gehen. In braver innerer Hänschenkleinmanier packten also Maps & Atlases ihre metaphorischen Stullen und navigierten 6 Jahre lang durch den Dschungel fingertechnischer und metrischer Kunstfertigkeiten des Progressive Rock. Nach der Erschließung von avantgardistischer Polyrhythmik und kontrapunktischem Stil schlugen sie die Zelte im Studio auf und kondensierten ihr musikalisches Ausnahmekönnen zum Debutalbum „Perch Patchwork“: Das ist buchstäblich eklektizistisch aber – surprise – stringent wie ein Konzeptalbum und angenehm poppig ausbalanciert. Highlights: Chris’ variable Drums und Davids fiebrige Raspelstimme, die von falsettartigem Scat-Wettstreit mit der Gitarre fließend zur sonoren Erkenntnis „I don't think there is a sound that I hate more than the sound of your voice“ wechselt. Den harmonisch komplexen Klang machen dann noch feingliedriges Fingertapping, Blechbläser, Saxophon und Streichinstrumente. Und wem zwischen Walzer- und 7/8-Takten schwindlig wird, hilft das Koordinatensystem der 3 Instrumentalstücke „Will“, „Is“, „Was“ an den richtigen Stellen im Album gegen Ohr-ientierungsverlust.