2010-05-24

konzept: snipcardempathie

Snipcardbretter in Wien wie Darstellungen der stillenden Jungfrau Maria in der Renaissance. In voller Blüte, keusch den Blick gesenkt, die rechte Brust entblößt. Da war jemand dran. Oder Snipcardaussteller wie ein Topless Beach in Rio. Die Oberbekleidung irgendwo zwischen Bacardi Bar und sex on the beach verloren.

SNIPCARDEMPATHIE BIS ZUR VOLLSTÄNDIGEN IDENTIFIKATION
SNIPZOPHRENIE

Es dürfte einer dieser Morgen danach sein, denn ich wache auf und muss mich meines Aufwachens vergewissern. Ich fühle mich unrund. Während sich noch alles dreht, hölzern schmeckt und übel riecht, stellen sich die ersten existenziellen Fragen. Und dann wird mir meine Brettphysiognomie bewusst. Ich bin schwarz, viereckig und nackt. Ich hänge schief an einer Wand, meine Unterkante ist geschunden. Und schlagartig habe ich kein Brett mehr vor dem Kopf sondern statt. Guten Morgen Welt, ich bin das Kunsthallen Schnippbrett und letzte Nacht ist es wieder passiert. Ausstellungseröffnung, wild ausgelassenes Feiern und ich maßloses Stück habe mir einen zuviel hinters Brett gekippt. Dunkel erinnere ich mich an eine schlechte Unterhaltung über Kafka und dreckige Ikea-Witze. Es folgten: Totaler Kontrollverlust gegen Mitternacht, selbstzerstörerische Spendierfreudigkeit und irgendwann war ich all meiner Snipcards beraubt, völlig entblößt und der letzte Gast auf der Party. Dann muss ich eingeschlafen sein. Jetzt fühle ich mich benutzt und leer. Ich versuche mich aus eigener Kraft gerade zu rücken, zwecklos. Bestückt mich jemand?

ziemlich so veröffentlicht (perfume genius - learning)

[INDIE magazin No 27]

Perfume Genius
SCENTS AND SENSIBILITY

Warnendes Hundegebell zerreißt die nächtliche Stille im Elternhaus in Everett, aber der, der am Klavier sitzt, hört es nicht. Er setzt an, um in wiegenden Moll-Harmonien vom lauernden Dunkel zu singen, von Mary Bell, einer 10jährigen Mörderin, vom Selbstmord seines pädophilen Lehrers. Wie Lockrufe in eine morbid-schöne Welt wirken die fragilen Töne, das hörbare Atmen, das zitternde Brechen seiner Stimme, für die er sich lange schämte. Dass Mike Hadreas, aka Perfume Genius gerade sein Album aufnimmt, dass die Hunde darauf zu hören sein werden, ahnt er da noch nicht. In einem kathartischen Ausbruchsversuch spielt der Bedroom-Barde nur für sich, inszeniert musikalisch die Geister seines Tagebuchs. Zu hören ist ein Musterbeispiel von Empfindsamkeit: emotionalisiertes Fallsett zu zerlegten Klavier-Akkorden, schaurig-schön gehauchte Elegien über Sexualität, Liebe und Tod – Mikes Musik ist immer Zeugnis geisterhaft-traumatischer Erinnerungen und gleichzeitig deren Überwindung. Dass wir Mikes Herz in Form der LP „Learning“ so fleischig-roh in unseren Händen halten werden, verdanken wir der Entdeckung durch Los Campesinos! und Turnstile. Und so zerbrechlich die Lieder anmuten, so tapfer ist ihre un-editierte Veröffentlichung: Ab und zu knistert das Mikro und manchmal rutschen ungelenke Finger unregelmäßig über die Tasten, aber trotzdem hören wir immer noch zu. Mit dem Herzklopfen eines Voyeurs blicken wir gebannt in Mikes Schlafzimmer. Aber so verstörend direkt er Privatestes offenlegt, so diffus-ambivalent bleibt er als Person hinter Perfume Genius. Er liest am liebsten Bücher über Sinnlichkeit, lässt sich mit blauen Flecken fotografieren und twittert vom Augenkontakt mit einer kotzenden Katze. Was bleibt ist herzzerreißender Gesang über die Dämonen die uns quälen: „There are murders about“.