2010-05-24

ziemlich so veröffentlicht (perfume genius - learning)

[INDIE magazin No 27]

Perfume Genius
SCENTS AND SENSIBILITY

Warnendes Hundegebell zerreißt die nächtliche Stille im Elternhaus in Everett, aber der, der am Klavier sitzt, hört es nicht. Er setzt an, um in wiegenden Moll-Harmonien vom lauernden Dunkel zu singen, von Mary Bell, einer 10jährigen Mörderin, vom Selbstmord seines pädophilen Lehrers. Wie Lockrufe in eine morbid-schöne Welt wirken die fragilen Töne, das hörbare Atmen, das zitternde Brechen seiner Stimme, für die er sich lange schämte. Dass Mike Hadreas, aka Perfume Genius gerade sein Album aufnimmt, dass die Hunde darauf zu hören sein werden, ahnt er da noch nicht. In einem kathartischen Ausbruchsversuch spielt der Bedroom-Barde nur für sich, inszeniert musikalisch die Geister seines Tagebuchs. Zu hören ist ein Musterbeispiel von Empfindsamkeit: emotionalisiertes Fallsett zu zerlegten Klavier-Akkorden, schaurig-schön gehauchte Elegien über Sexualität, Liebe und Tod – Mikes Musik ist immer Zeugnis geisterhaft-traumatischer Erinnerungen und gleichzeitig deren Überwindung. Dass wir Mikes Herz in Form der LP „Learning“ so fleischig-roh in unseren Händen halten werden, verdanken wir der Entdeckung durch Los Campesinos! und Turnstile. Und so zerbrechlich die Lieder anmuten, so tapfer ist ihre un-editierte Veröffentlichung: Ab und zu knistert das Mikro und manchmal rutschen ungelenke Finger unregelmäßig über die Tasten, aber trotzdem hören wir immer noch zu. Mit dem Herzklopfen eines Voyeurs blicken wir gebannt in Mikes Schlafzimmer. Aber so verstörend direkt er Privatestes offenlegt, so diffus-ambivalent bleibt er als Person hinter Perfume Genius. Er liest am liebsten Bücher über Sinnlichkeit, lässt sich mit blauen Flecken fotografieren und twittert vom Augenkontakt mit einer kotzenden Katze. Was bleibt ist herzzerreißender Gesang über die Dämonen die uns quälen: „There are murders about“.

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