2009-08-14

doch eine rezension. clavigo (j.w.goethe) - volkstheater

Doppelte Bemühungen um Goethe
Stephan Müller inszeniert Goethes Clavigo mit halbem Text und doppelter Entselbstung.

Von Katharina Serles

Über Inneres und Äußeres
Goethe legt in diesem frühen Bürgerlichen Trauerspiel, das er in acht Tagen zu Papier bringt, den virulenten Konflikt zwischen den Ständen in das Innere des Protagonisten. Legt alles Äußere ins Innere und übt, so scheint es, schon den Werther. Der Aufsteiger Clavigo steht zerrissen zwischen Verselbstung und Entselbstung, Systole und Diastole, zwischen Liebe und Erfolg. Entweder er hält Wort, widmet sich in empfindungsvoller Liebe der Französin Marie und damit dem bürgerlichen Mittelmaß, oder er gibt seinem Ehrgeiz nach am spanischen Hof „hinauf, hinauf“ zu drängen. Verstärkt wird von außen auf ihn eingewirkt, Carlos und Beaumarchais fungieren wie zwei Pole in deren aufgespanntem Magnetfeld Clavigo schwankt. Leicht bestimmbar fehlen ihm die Züge des kraftvollen Sturm- und Drang Genies. Das tragische Ende liegt in seinem Nichtentschluss begriffen.
Müller wiederum kehrt in seiner Inszenierung am Wiener Volkstheater Innerstes nach außen, lässt den inneren Konflikt körperlich ausagieren und interne Strukturen des Stücks in Figurenkonstellationen und proxemischen Zeichen offenbar werden. Das beginnt bei synchronem Stellungsspiel und endet in verzweifeltem Ausdruckstanz die Wände entlang. Jedes Detail stimmt in dieser Inszenierung, überall liegt Bedeutung und es scheint die Aufgabe des Publikums diese Sinnpartikel aufzulesen und zu einer großen Aussage zusammenzufügen.
Über Strukturverliebtheit
Zunächst einmal ergänzen sich Hyun Chus Bühnenbild und Birgit Hutters Kostüme in merkwürdiger Textur- und Strukturverliebtheit. Das scheinbar schwer rinnende Gold von den Rück- und Seitenwänden steht für Prunk, Pomp und Macht am Hof, die weißen, halbtransparenten, handgeschöpften Zwischenvorhänge deuten die weibliche Kemenate an, verkleinern und verbürgerlichen den höfischen Raum. Vor diesem haptisch anregenden Hintergrund in goldbraunweiß bewegen sich die Figuren in ähnlich monochromen Kostümen. Clavigo (Raphael von Bargen) und Carlos (Michael Wenninger) spielen in schwarzen Nadelstreifanzügen die spanischen Höflinge, Beaumarchais (Günter Franzmeier) und Saint Georges (Markus Westphal) in braunen Mänteln, Hüten und Handschuhen die französischen Rächer. Die Vertreter der Ratio, Guilbert (Thomas Kamper) und Buenco (Till Firit) im schwarzen Frack mit gepunkteter Krawatte (einmal Schwarz auf Weiß, dann Weiß auf Schwarz) wirken ebenso sonderbar clownesk wie Sophie (Heike Kretschmer) in ihren klobigen Mary Poppins Stiefeletten und mit den doppelten Dutts. Weiß bleibt Marie (Luisa Katharina Davids) vorbehalten, die anfangs barfuß, im weißen Negligé die unschuldige Licht- und Musenfigur personifiziert, bis auch sie braun gekleidet und verschleiert wird. Die unterschiedlichen Doppelungen erfolgen ganz bewusst und unterstreichen die dem Stück inhärenten binären Oppositionen ebenso, wie sie auch noch einmal die Struktur des Grundproblems zitieren: Clavigo steht zwischen A und Z, Systole und Diastole, Marie und Hof. Bei genauer Beobachtung ist auch alles andere gedoppelt in Müllers Inszenierung. Seien es gedoppelte Clavigo/Marie Rufe, gedoppelt synchrones Spiel, gedoppelte Figurenkonstellationen im Raum – wie etwa die beiden Proszeniumszenen von Carlos und Clavigo in Szene 1 und Beaumarchais und Saint Georges in Szene 2 – oder einfach zweimal wiederholte Sätze.
Wie ein roter Faden zieht sich die Detailverliebtheit weiter durch die ganze Inszenierung. Eine genaue Bewegungschoreographie der Schauspieler, die durch ihr streckenweise synchrones Spiel das Stück eigenartig verfremden, ist gleichzeitig auch verkörperlichter Ausdruck eines marionettenhaften Daseins. Jede Figur scheint, von unsichtbaren Fäden gezogen, zwischen Verselbstung und Entselbstung hin und hergerissen; und so heben etwa Sophie und Buenco völlig synchron die Arme zum Gruß um dann plötzlich statuenhaft zu verharren und die Pose schließlich zeitlupenartig zu lösen. Besonders sticht dabei natürlich der Körperschauspieler Raphael von Bargen hervor, der sich in einem mit Martin Woldan einstudierten Kraftakt in extremen Schieflagen sogar kopfüber an den Wänden entlang über die Bühne rollt. Ihm wird im fünften Akt fast jede Zeile gekürzt, er spricht nicht mehr, er drückt aus und läuft einerseits gegen die bürgerlichen, aber andererseits auch gegen die eigenen Wände an, die ihm ein Ausbrechen und eine Auflösung der Situation verwehren.
Über Komik
Nichtsdestotrotz bewahrt Müller einen feinen Humor und es darf geschmunzelt werden im Volkstheater. Sein ungezwungener Umgang mit dem Originaltext ermöglich ironisch eingefügte Beisätze wie die Antwort Beaumarchais, „Ich bin da! Gott sei Dank, bin ich da!“ auf Maries, „Bist du da? Gott sei Dank, du bist da!“ im Originaltext. So darf auch Michael Wenninger seinen Carlos sehr frisch anlegen und muss sich gelegentliche Kommentare wie „Schön, dass Sie da waren!“, bei halbleerem Haus, und dialektal gefärbte Interjektionen wie „Es gibt nichts Erbärmlicheres… boah ah!“ nicht verkneifen. Ganz Harlekin hüpft, stolpert und rudert er in Slapstickszenen über die Bühne, bespielt den Raum damit ganz anders als Clavigo in seinem verzweifelten Ausdruckstanz, ist aber dennoch ebenso wenig Herr seiner Umgebung wie Clavigo. Auch die angedeutete Homoerotik zwischen Clavigo und Carlos – durch affektiertes Bussi-Bussi Gehabe und Hunderuf oder Apportierspiel – belebt die Inszenierung abseits einer farblos langweiligen Luisa Katharina Davids, die nur verhuscht ins Leere blickt. Ihr gegenüber steht eine hysterisch-komische Sophie, die brüllend über die Bühne trippelt und mit knallroten Lippen und Dutt-gehörnt ohnehin sofort optisch an einen Clown erinnert.
Über Anfang und Ende
Was das Stück an sich schon vorgibt, eine Ankündigung oder gar Festschreibung des Folgenden bereits im ersten Akt, ahmt auch die Inszenierung nach. In den eineinhalb Stunden der Aufführung wird das tragische Ende der Doppelleichen immer wieder antizipiert. Sei es in dem Aufscheinen des Lochs in der Mitte der Bühne, das später Maries und Clavigos Grab sein wird, bereits im zweiten Akt, sei es Maries leichentuchartig übergestülpter Schleier, seien es die beiden Messer in der Wand, oder die abenteuerliche Westernmusik zwischen den Szenen (Musik von Thomas Luz). Unheilvolle Blicke der Figuren künden bei allen komischen Verfremdungen nicht unbedingt von gutem Ausgang, der dann auch doppelt schlecht wird: Müller zerstört mit der letzten Szene alle vorher so feinsinnigen Interpretationen. Er lässt Clavigo und Marie wie Romeo und Julia begleitet von einem kitschigen Popsong Hand in Hand aus ihrem Grab wiederauferstehen und starr ins Publikum blicken. Welche merkwürdig metaphysische Aussage hier getätigt sein will, bleibt völlig unklar.
Insgesamt, trotz oder bei aller Doppelung und Detailverliebtheit, es bleibt eine sehr bemühte Inszenierung. Nur leise und etwas ängstlich wagt sie eine Verheutigung, die nicht konsequent beziehungsweise schlüssig durchgeführt wird. Da hat Jan Bosse in seiner Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg 2001 mit der Doppelbesetzung Wolfram Kochs als Carlos und Beaumarchais und der Verortung des Geschehens in einem Großstadtbüro viel mehr für die Aktualisierung des Werks getan. Und wer nicht ganz genau aufpasst, dem entgeht die feine Interpretation Müllers vielleicht völlig. Was dann bliebe wäre eine fürchterliche Schlusseinstellung und ein bisschen Klamauk.

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