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2014-07-07

erinnerungen abzählen


0
Das Dröhnen der Turbinen löscht die Sprache aus. Kein Ton. Darüber Möwenstillstand. Das Schweben, Strömen und Gleiten eines Reiseschweigetags. Wortlos weil sprachlos im Auto, Gs flüchtiges Lächeln des Verstehens (vielleicht) über deine kindliche Freude. M empfängt dich mit großer Geste. Ab morgen im Kopf wohnen, den Tag mit unklaren Gedanken füllen. Du spielst von fremden Ländern und Menschen, spürst M andächtig in einer Ecke der Grotte, der Wein klebt traubig auf der Zunge. Auto rollt über Kies. Das Haus füllt sich, der Traum verfängt sich im Mückennetz. 

1
Hitze staut sich in Dorfwinkeln. Wäscheleinen ranken sich durch Tourismusidylle und Kulissenschluchten. In Wartehaltung eines Sonnenbrands Wegesranderzählungen bunter Hier-und-Dort-Leben. Ästhetik-Diskussion (unwillig) beim Essen. Dann zischende Fußsohlen auf den ersten Strandmetern und endlich Meer. Die Uhr? Die Zeit läuft. Die erste Begegnung mit der bildenden Künstlerin im Klee. Du korrigierst deine Lautstärke.

2
Du verirrst dich, stolperst über Berg und Tal, in ein Auto zweier braunfaltiger Italienerinnen mit Bindi an der Stirn und Dackel zu deinen Füßen. Später Käferbrummen, Möwen schrecken auf, G stapft vorbei. Eine Spinnwebe spannt sich über die Wiese, blitzt schwingend in der Sonne. Die Nase immer in den Grasspitzen, am geschäftigen Treiben der Ameisen. Bier wird gekühlt. M dreht die Messerklinge nach innen.

3
Frühes Erwachen, Erinnerungen an Kindheitssommer. Traumwarme Fußsohlen auf spröden Tonfliesen. Du hast dir ein Sonnenbänkchen gefunden, hoch über den Weinbergen. Die Haare bleichen von der Stirn aus. Wenn sich bloß Weisheit vorwagte – vom Frontallappen in die Haarspitzen. 
T, M und K lachen schallend zu ihren Kanonenschusspointen.
Du brennst ja gar nicht so für die Wissenschaft, sagt M.
Das Meer kündet nichts. Unwetter war versprochen, den Himmel kannst du nicht lesen. Ins Heft fallende Haarnadeln stören den Schreibfluss auch nicht eher als die viel zu schnellen Gedanken. 

4
Du hörst Schritte. Lieber kein Blick. Der Blick macht die Geschichte. Hätte sich das bloß noch niemand gedacht. Das Bedürfnis, dich zwischen Worten und Zeilen und Erinnerungen konstruiert zu finden. Das im Kopf bleiben. Im eigenen Kopf. Die Unzufriedenheit darüber. Die Zweifel am Ausdruck. Eine Ameisenstraße Zweifel. Durch Regentropfen klingt ein Saxophon. Die Feuchtigkeit die uns bleibt. Die Kondome im Schweizer Vorsorgeschrank. 

5
Pünktlich wird das Essen serviert, werden die Plätze eingenommen. Wird das ewig gleiche süße Frühstück viel zu lange schweigend absolviert. Niemand, der wild geträumt hat. Zwischen Panna Cotta hängen sie ihren Ideen nach. Dein Rock weht Felsenwärme davon, du hältst die Weste fest, spürst Salz und unmögliche Romantisierung im Gesicht. Kauern auf der Klippe, der Kaffee neben dir (Haltbarmilch) längst kalt. Der Felsrücken prägt sich in deinen Körper. Formengedächtnis.

6
Du suchst Inspiration in der Jazz-Grotte und findest minutenlanges Innehalten. Beobachtest zwei, die einander verstehen. Gleich anschließend die entrückte Ruhe von Blatt und Holz und Licht am Fenster bei M. Ein Vogel klopft an. Aussicht auf Weinberge, Wellenglitzern, angebrauchte Wasserflaschen auf dem Anwesen verteilt. Rauschloses Vorüberrauschen der Zeit entlang Wellenspiel. Die Stille zwischen den Wellen ebenso lang wie dieses Jetzt. Wohin die Quallen wandern? Wer sie in der Nacht findet? Eine Berührung, du schreckst auf. Und hast schon dreimal mehr gedacht als geschrieben. Annäherungen gehen immer nur so weit. Und Schritte auch zurück.

7
Das kleine Wo-bin-ich? Du machst dich morgens mit Schlaf im Auge auf den Weg zum Felsen. Schwimmst deinen Luftblasen nach und voraus, hast die Gefahr schon gesehen (aber wo lauert die nicht) und kurz vor Schluss fluchst du den Schmerz und die Panik vor mehr (Meer) an Land. Q begegnet. Wie die Möwen bist du von da an konstant alarmiert.

8
Das gestrige Gespräch im flackernden Kerzenlicht, das eigene auf den Tisch hauen, die weinselige Argumentation im Kreis. Die Nachwehen und alles Vergessen am Frühstückstisch. Es ist ein Sprechen, das von sich ausgeht und immer zu sich zurückkommt, es ist ein witzelndes Ausschließen anderer Wahrheiten. Das Leben hier, wo für alles unsichtbar gesorgt wird, macht es uns leicht und schwer einträchtig zu sein. Dir ist nach Konflikt. Wir sind alle Egomanen, sagt K. In Ks Kopf sortieren sich Gedanken anders.

9
Die Zeit einfassen. Die großen Erzählungen finden. Wenn bloß T mit seinem grünen Band auch die Stunden dehnen könnte. Abends am Strand die Blicke von außen auf ihre kleine Gruppe. Der Vater, der die Rechnung vorgelegt bekommt. Wir teilen jedes Getränk genau. Denken und sehen mit gespaltenem Blick. Ästhetik des Disparaten. Die Ameise auf meinem Blatt ist angeschlagen, es fehlt ein Fühler und ein Bein. K M T M K. Dem Comiczeichner wäre vieles lieber synkopisch, das Uhrwerk seines Auchnichtanderskönnens läuft präzise.

10
In der Nacht leuchten Luftblasen wie Glühwürmchen im Meer. Der Sternenhimmel beim gewollten Loslassen. Das ausweichende leise Wissen am nächsten Tag.

11
Ich möchte mich erinnern an das Lachen der Musiker beim Proben, an M beim Krimilesen am Strand und Melonenschneiden in der Küche, an Ms ‚Dangschön‘. Das Meer in der Nacht, das Sitzen der Möwen am Dach, Pingpong! Karten! Pfeifkonzerte! Musik des Pulsmessens! Fußball! Dinner is served! Wir gemeinsam an Stränden, in Autos, vor Bildschirmen. Wie die Ameisenstraße der sich stets berührenden Ameisen, wir beim Aufdecken des Mittagstisches. Was fehlt noch, haben wir genügend Löffel? Der schmale und weite Grat eines WIR. Gesprächsfixsterne. Wir finden unseren Baum.

12
Das sich Suchen im Neu, im toten Winkel der Selbstbespiegelung ein instabiler Zustand, hat mehr Zeit und Kraft geraubt als gedacht. Ergebnis nicht qualifizierbar. 4 Kontakte. Ein paar Seiten Tagebuch-Text, künstlerische Verwertung unsicher. Gute Zentimeter Lektüre und Abschrift, die ersten braven Post-Its auf dem Kasten, der Schmalz im Gästebuch. Die Traurigkeit über ein zu wenig, zu kurz, zu schön. Am Ende lernen die jungen Möwen fliegen und wir sehen es nicht mehr.

13
Wie Elba verlassen, wie den Klang der beiden Wochen möglichst lange mit nach Hause tragen. Wie wieder Alltag vorfinden? Im Nachhinein sehe ich mich stets wieder auf diesen Klippen sitzen, liegen, stehen. Vor wolkenverhangenem Hokusai-Berg, vor Mondrian-Meerausschnitten durch Pinien. Ich laufe wohin Begegnungen mich tragen.

2013-04-12

WTF


Ein Dramolett in sechs Szenen
[UA: 9. 4. 2013, 22 Uhr, Theater am Küniglberg]

EIN MANN
Ein älterer Herr. Er macht sich große Sorgen über die Zukunft seines Landes. Er hofft, dass sein Land sich verändert, sonst sieht er keine gute Zukunft für sein Land. Und, wo sein Name drauf steht, da müssen die Worte stimmen.

BÜHNE
Ein leerer Raum. Es ist zu sehen, dass er sich große Sorgen über die Zukunft des Mannes macht.

SPRACHE
Einige Worte, die stimmen.

SZENE I

EIN MANN (über Politiker)
Ich habe nicht gesagt, dass ich sie verachte
Ich möchte hier noch sagen
ich habe nie gesagt, dass sie lügen
und dass sie nicht die Wahrheit sagen
Das ist ein Unterschied, wenn man sagt,
sie sagen nicht die Wahrheit
Ob ich hier sage, sie sagen
‚oft nicht die Wahrheit‘
das ist ein Unterschied
Ich weiß ganz genau, was ich sage

SZENE II

EIN MANN (über Wirtschaft)
Wir sagen, das ist eine Wirtschaftsfrage
Und wir wissen auch
das Ganze passt nicht mehr
Und das war das Problem
Wenn die Schuhe nicht passen
kauft sie dir keiner ab
Das hat mit der Umwelt nichts zu tun
Wir müssen die Wirtschaft ankurbeln
Es muss einmal verstanden werden
wie die Wirtschaft funktioniert
Und dadurch entsteht ein ganz anderes Denken
Und die Arbeiter sind motiviert
Sie sind dann mit Herz dabei
Sie denken nach
Die Leute wollen auch verstehen
Und ich glaube
die Wirtschaft verstehe ich

SZENE III
EIN MANN (über Korruption)
Wissen Sie, was Korruption ist
Korruption ist auch
Leute, die bewußt
Korruption
Strukturen
und Werte
unterstützen
Und ich glaube
mit dem Herzen
und Denken
geben Sie mir recht

SZENE IV
 
EIN MANN (über Europa)
Ich hoffe, ich bin für ein starkes Europa
Das braucht Generationen
bis das zusammenwächst
Wir haben jetzt den Euro
Wir sind das gewöhnt den Euro
Aber eines ist ganz sicher
Und darum dreht sich’s
Wir haben jetzt einmal den Euro
Und die ganze Idee ist ja
dass Europa zusammen wächst
Jetzt, wie wir in Europa strukturiert sind
wächst Europa auseinander
Es entsteht ein Hass
Und Hass kann zu Kriegen führen
Und das müssen wir vermeiden
So entsteht ein Hass
Es funktioniert nicht mehr
Das war eine Fehlkonstruktion
die gemeinsame Währung
Und das ist ja nicht kompliziert

SZENE V

EIN MANN (über Tirol)
Ich habe gesagt, ich fliege morgen nach Tirol
Ich schätze Tiroler sehr
Tiroler sind sehr freiheitsliebend
wollen nicht dominiert sein
von irgendjemanden
und auch nicht von mir
Ich fahre morgen raus
Ich werde zu den Tirolern sagen
Ich schätze Tiroler sehr
Tirol ist ein sehr wichtiges Land für Österreich
Und ich verstehe die Unabhängigkeit
und so weiter
Und ich werde da mit den einzelnen Leuten sprechen
und mir ein Bild machen
Und am Donnerstag werden wir dann fertig sein
und einmal eine Klarstellung machen
Ich muss morgen
Ich fahre morgen raus

SZENE VI

EIN MANN (über seine Partei)
Wir sind eine junge Partei
Wir machen Fehler
Wir haben in der kurzen Zeit
Wir haben
Wir arbeiten
Wir sind alle ziemlich neu
Alles ziemlich
Irgendwie
Wir werden gut abschneiden
Die Latte ist sehr hoch
Ich sage nie einen Prozentsatz
nein nein nein nein nein nein nie
Nein, ich kann es sagen, ich sage das nicht
Ich habe das nie gesagt
Ich weiß, was ich sage
Sie können mich mitten in der Nacht aufwecken
Ich sage:
es kommt vom Herzen
es ist die Wahrheit
ich sage nie die Prozent
Ich sage:
ich arbeite
wir haben gute Programme
wenn Leute unsere Programme verstehen
Nein, habe ich nie
Habe ich nie gesagt
Da habe ich das letzte Wort
Danke
Sehr gut
Danke
(ab)
(Es ist aus)

---
Mit Dank an Franks Seiten, Neuwal, Werner Schwab und ihre Werte.

2012-01-30

new year's eve

nicht klarwerden möchten
nicht rückblicken werden
erkenntnis vorauseilend verkennen
2012

2011-01-05

walter and the benjamins

als ich neulich meinen kapodaster hinschmiss
wünschte ich mir die historische apokatastasis
denn dann wäre er gleichzeitig doch noch
auf dem steg nicht weit vom schallloch.

zugabe I: ein dialektisches epigramm
was du alles nicht weißt,
was du nicht alles weißt.

zugabe II: bimld

bi ld
 im
bi ld

es bimld an der tür und im hirn!

zugegeben: hinterlektuelle diplomarbeitssumpfpo(e)s(i)e also strumpfhose

2009-12-10

entwicklungsroman. eine aufwärmung.

Unmittelbar links und rechts von dem braunen Mitesser etwa zwei Zentimeter über der Mitte der linken Augenbraue kommen meine beiden Zeigefinger zu liegen. Auf der Suche nach der richtigen Angriffsfläche tasten sie die Umgebung ab, spannen die Haut, treffen sich an den Fingerspitzen. Sie drücken zu. Immer stärker pressen sie gegeneinander, die Nägel hinterlassen Neumonde. Dem braunen Punkt zwischen ihnen bleibt kein Ausweg mehr als die Flucht nach vorn. In der kalten Fliesenstille des Badezimmers wird der Moment des Durchbruchs hörbar. Befriedigung. Wunderschön schiebt und windet sich danach der Inhalt aus den Hautschichten. Es ist eine erstaunlich kompakte, feste Masse, bräunlich und größer als gedacht. Ich übertrage sie auf ein Blatt Papier und versinke in zufriedener Faszination mit mir und meinem Körperrückstand. Ichrückstand aus dem Innersten. Wie Text.

Sie isst ihr Frühstück vom Plastiktischtuchschoner über gestickter Handarbeitspracht und Hundehaaren. Der Hund liegt breit vor dem Herd, fixiert sie. Sie schaut träge zurück. Draußen wird geschlachtet. Der Bauer hat den Hals aufgeschlitzt, die Bäuerin schwitzt und fängt das Blut auf. Das wird später aufgeschäumt und kühl gehalten bis die Zwiebel geröstet sind und zu Mittag Blutstommerl serviert wird. Sie schaut vor sich hin und denkt an die drohende Übelkeit unterm Herrgottswinkel. Das Frühstück schmeckt ihr nicht mehr. Bis die Bäuerin in die Stube kommt bewegen sie sich nicht. Sie und der Hund. Die Zeit vergeht so auch.
Die Bäuerin kommt, wischt Blut in ihre Mantelschürze und stößt den Hund zur Seite. Mit dem Stoß ist eigentlich sie gemeint, dementsprechend schaut die Bäuerin. Zwiebel werden geschnitten und in der Pfanne klappernd umgerührt. Jetzt scheppert das Radio, die Bäuerin schaut weiter grimmig. Es wird gerührt, gestöhnt, es stört, dass sie so träge sitzt und isst und gar nicht daran denkt zu helfen. Nichts schlimmer als unnütze Esser. Das dumpfe Gefühl, dass Bauer und Bäuerin gerade die falsche geschlachtet haben.
Sie denkt dasselbe. Ihr Unterkiefer knackt. Dreimal wöchentlich schläft sie schlecht weil im Nebenzimmer Lattenrost und Bäuerin um die Wette ächzen. Die anliegende Wand wackelt, der Bauer schreit und schimpft wenn sie unrhythmisch versuchten einen Erben für den Hof zu zeugen. Sie liegt dann steif und lange wach. Sieht den Bauern mit dem Schlachtermesser vor sich. Die fleischig-haarigen Blätter der Saublotschn auf ihren Brüsten zittern. Sie legt sie jeden Abend auf, damit ihre Brüste größer werden. Jetzt knacken Fingerknöchel. Unter dem Tisch umfasst sie fest ein Buttermesser. Der Hund knurrt. Blutstommerl also.


Ich habe das so schön Ausgedrückte betrachtet, es immer wieder neu ertastet. Grenzwertig unschuldiges, haptisches Vergnügen. Spannende Schatzsuche, zufriedene Bergung. Spürmomente bis zum restlosen Ausspüren. Dabei fühle ich mich uneingeschränkt wohl, in Ruhe gelassen, mit mir selbst im Reinen.
Bleibt nur noch die Peripetie. Meine Fingerkuppen tasten also nach einer zweiten reifen Pore, finden nichts. Gierig nach Erfolg drücken sie nur noch Lymphe und Blut aus den Gefäßen. Wässrig, nichts Handfestes. Der Moment der erlösenden Entspannung bleibt aus.

Als die Sirenen zu heulen beginnen, fällt das Buttermesser zu Boden. Sie entgeht dem Blutstommerl und der Tat, flüchtet auf das Plumpsklo hinter Tenne und Heuboden. Sie atmet flach. Im schiefen, modrigen Holzverschlag beruhigt sie sich. Neben dem Duftbaum hat die Bäuerin ein Bild von der Himmelmutter angebracht. Verblasste, abblätternde Farbe wacht über feuchtes Holz und Sägespäne, nur das flammende Herz in den Händen der Madonna leuchtet sehr rot.
Sie will nur mehr auf die Wiese zu den müßig wiederkäuenden Kühen. Nur mehr liegen. Und wie sie da liegt, hört sie nur mehr regelmäßiges Rupfen von Gras, sieht sie nur mehr schlaffe Euter, gerade gemolken und ausgeleiert von der täglichen Last. Sie bleibt den ganzen Tag.


Meine beiden Zeigefinger sinken an den Rand des Waschbeckens. Der Blick wandert in den Spiegel, zurück, kritisch, mein Gesicht ist gerötet, und dann auf meine Finger am Rand des Beckens. Ich trage meine Nägel kurz, zwei Millimeter breit soll das Weiß sein. Wichtig dabei ist, dass ich gut an die schwarzblaubraungrüngrauen Ränder komme. Die Ablagerungen unter den Fingernägeln, die Sockenflusen zwischen den Zehen, der Abrieb im Bauchnabel, die Talgrückstände auf der Kopfhaut.
Nach Manier der Selbstbefragung suche ich mich erneut ab. Möchte Neues aus mir herausholen. Der rechte Zeigefinger findet das rechte Nasenloch, kennt seinen Weg. Ahnt die Konsistenzunterschiede voraus. Eine angetrocknete Stelle ertastend, schiebt sich der Nagel des Zeigefingers zwischen Nasenwand und Nasensekret, löst die Kruste vorsichtig, nimmt dabei das schleimige Anhängsel mit. Als wäre ein übergroßer Pfropfen entfernt, fällt das Atmen um vieles leichter. In haptischer Glückseligkeit zwirble ich den Fund zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann lege ich ihn wieder auf dem Papier nieder und beuge mich andächtig über die differenzierte Farbkomposition. Sie spiegelt den Tag wider, wie organische Annalen, wie ein inneres Geschichtenprotokoll.

Jeden Donnerstag geht Paula-Magdalena ins Schwimmbad. Nach Topfengolatschen ist es das, was Paula-Magdalena am liebsten mag. Nach Topfengolatschen. Donnerstag muss sein. Muss so sein wie Topfengolatschen Montags, Dienstags, Mittwochs, Freitags, Samstags und Sonntags. Damit sie sich nicht in eine Topfengolatsche verwandelt; der Mensch braucht Abwechslung.
Heute ist Donnerstag. Paula-Magdalena geht ins Schwimmbad. Gekleidet in ihrem grün getupften Badekostüm. Die Ausmaße eines Badeanzugs sprengt sie. Paula-Magdalena ist formvollendet. Platonisch kugelförmig.
Später am Donnerstag ist sie immer noch im Schwimmbad. Immer noch nicht nass, aber grün getupft und dort, wo sie die Sonnencreme nicht einreiben kann, weiß gestreift. Auf die Dauer machen Topfengolatschen doch unbeweglich. Auch am Donnerstag.
Dann ist es soweit. Paula-Magdalena gleitet die blaugefliesten Stufen in das Becken hinab. Die Sonnencreme-Fettaugen an der Oberfläche schwimmen wie Vorboten voraus.
Sie holt tief Luft und taucht unter. Was für ein Tag. Donnerstag. So schwerelos wie sie sich jetzt fühlt, wird sie sich nie in eine Topfengolatsche verwandeln. Paula-Magdalena muss lachen. Ihr Atem sprudelt an die Oberfläche und zerplatzt. Ausgemachter Blödsinn, jetzt geht sie ja auch schwimmen. Genug Abwechslung. Sie taucht auf.


Erneutes Ausholen in die Vergangenheit. Meine schönste Kindergartenerinnerung ist, während eines Meerjungfrauenliedes auf einem Sessel zu stehen und mit dem Finger zum gefühlten ersten Mal im linken Ohr zu bohren. Während die anderen Kinder singen, bekomme ich den dottergelben, zäh fettigen Brei zu fassen. Es ist beglückend viel. Ich fühle mich ganz unbeobachtet, ploppe den Brei aus dem Gehörgang zwischen die Finger und reibe sie wollüstig aneinander. So viel auf einmal habe ich später nie mehr in Händen halten können. Jetzt die Wendung.

Paula-Magdalena holt tief Luft. Jetzt möchte sie mit einer zügig gekraulten Länge den Tag im Schwimmbad beenden.
Am anderen Ende des Beckens kommen nur noch die Sonnencreme-Fettaugen an. Paula-Magdalena ist verschwunden. Ein ausgewachsener Pottwal steckt hilflos in der Mitte des Pools. Grün getupft und weiß gestreift. Und bläst verzweifelt Wasser aus seinem Atemloch.
Diesen Freitag gibt es keine Topfengolatschen für Paula-Magdalena. Keinen Wochentag mehr gibt es Paula-Magdalena.


Denn man tut all das eigentlich nicht. Vielmehr spricht man nicht davon. All das bleibt besser nicht hervorgeholt. Unverständlich. Ich produziere dieses Wundersame doch.
Einen kleinen weiß knackigen Pickel entdecke ich noch an ganz ungewöhnlicher Stelle am Oberschenkel.

Wieder auf der Wiese ist es schon früher Abend. Sie ist eingeschlafen, erwacht erst von den Rufen des Bauern. Seee Mudl Seee, ruft er die Kühe zu sich, die schon unruhig geworden sind. Die Euter sind prall, dicke Adern treten hervor, schmerzen. Der Hund spuckt Schaum, geifert, treibt die trägen Kühe in den Stall zur Melkmaschine. Sie gähnt, atmet tief satte Landluft ein. Immer noch ruft der Bauer. Einmal senkt sie den Kopf noch, beugt sich tief in die Wiese, rupft grünes, saftiges Gras und kaut. Sie schiebt das Gras gegen den Gaumen, drückt es mit der Zunge zurück. Querrillen der Mahlzähne zerdrücken die Halme, die bald von vier Mägen verdaut sein werden. Sie erhebt sich langsam, die vorderen Paarhufe drücken zuerst in den weichen Untergrund. Seee Mudl Seeeee, und bevor der Hund sie ins Bein beißt, folgt sie dem Bauern in den Stall. In der Stube bekreuzigt sich die Bäuerin mit Wasser aus dem Weihbrunnkessel zur guten Nacht.

Dann finde ich nichts mehr. Ich bin fertig ausgedrückt. Fertig.

2009-08-16

noch eine art netz. bitter.

Draußen ist es noch dunkel. Ich will dir etwas sagen, du setzt Wasser auf und dein lachsfarbener Bademantel schiebt die Brösel auf dem Boden auseinander. Du beugst dich ein wenig nach vor, bis der Wasserdampf dein Gesicht wärmt.
Ich weiß, dass du dich oft wieder zusammengerollt ins Bett legst, wenn ich weg bin. Starrst das Stuckmuster an der Decke an und vermisst mich. Als du mir den Schlüssel zu deiner Wohnung gegeben hast, war das ein Versprechen für dich. Du planst, abonnierst Einrichtungskataloge. Du bügelst meine Hemden.

Jetzt brodelt das Wasser. Du suchst die Teebeutel. Denkst du an deine Träume oder spürst du, dass ich etwas mit mir herumschleppe? Die Teebeutel sind dort, wo sie immer sind. Ich sitze am Küchentisch, meine Fußsohlen bewegen sich über kühle Fliesen.
Ich will gehen. Mir ist der Alltag unangenehm. Ich mag nicht wie du umständlich dein Geld herauskramst, wie du allem was ich sage zustimmst, wie du neben mir liegst. Zu Weihnachten hast du mir Socken geschenkt.

Ich schneide eine Semmel auf. Denke an Stefanie und Paula. Du reichst mir Butter und Honig. Putzt Brösel vom Tisch und meiner Hose. Du träumst von Jausenbroten und einer Familie. Ich mag dein Jausenbrotgesicht nicht. Du hoffst, kaufst Babywäsche.

Der Tee zieht, dir rutscht die Zuckerdose aus den Händen. Wie es schneit, wie die Küche zur Schneekugel wird. Die Luft knirscht zwischen meinen Zähnen, ich huste. Wie Staub legt sich Zucker über uns.
Du hast mir heute wieder den Schlaf aus den Augen gestreichelt, hast mich geküsst obwohl ich nach Schlaf und Mundgeruch schmeckte. Egal wie müde du bist, du wartest immer auf dem Sofa bis ich komme. Wir reden kaum, du trinkst Rotwein. Einmal in der Woche schlafe ich mit dir.

Du stützt du dich an der Küchenzeile ab. Zu müde um den Zucker aus allen Fugen zu putzen. Später. Es ist doch noch so früh. Denkst du. Du wirst weinen, wenn ich fort bin. Du wirst den Teesud in deiner bauchigen Tasse hin und herschwenken und dich fragen wieso du mir so selten Reisauflauf gemacht hast.

Ich beiße in mein Honigbrot, schenke dir ein Lächeln. Draußen wird es hell, wir können schon die Vögel hören. Setz dich, ich muss dir etwas sagen.

nicht ganz literatur. fliegennetz. verwirrte fäden.

Obwohl er nicht mehr weit nach Hause zu gehen hat, setzt er sich in ein Café. An warmen Sommertagen ist er zu matt um den Weg auf einmal zu bewältigen. Er trinkt Kaffee, denn er schläft schlecht in diesen Sommernächten und er ist ein vielbeschäftigter Mann. Er darf sich nicht erlauben müde zu sein.
Die aufmerksame Kellnerin bringt ihm die Tageszeitung. Den Wirtschaftsteil lässt sie in ihrer Schürze. Die Fenster gehören abgedichtet. Und nach Dienstschluss möchte kein beschäftigter Mann an die Mühen des Büroalltags erinnert werden.

Während die Zeitung nach einer gewöhnlichen Schmeißfliege schnappt, rührt er in seinem Kaffee. Er lässt fünfeindreiviertel Zuckerstücke vom Silberlöffel in die Tasse fallen. Wenn niemand hinsieht sogar sechs. Draußen prasseln Fußgänger an Fensterscheiben mit kleinkariert bestickten Vorhängen. Der allabendliche Sommerregen bringt die Kellnerin hinter der Theke zum Seufzen, hat sie die Fenster doch eben erst gereinigt. Die Schmeißfliege schläft jetzt auf ihrer Nase.

Er hat den Kaffee ausgetrunken und liest am Boden seiner Tasse sitzend im Kaffeesud. Es nützt ihm nichts. Wie üblich lacht der Sud nur und spuckt fünfeindreiviertel Zuckerstücke nach ihm, aber er ist ja ein viel beschäftigter Mann. Er lässt sich durch Kindereien nicht beirren. So sinnt er in dem Café, nicht weit von zu Hause, über seine Zukunft. Er weiß genau was er will. Er wird heute Abend noch den Rasen mähen. Dabei fühlt er sich richtig. Lange blickt er in sein dumpfes Spiegelbild im Silberlöffel. Dieser gähnt nur. Ausdruckslos. Was geht ihn das an. Jeden Tag dieselbe Leier. Eigentlich kommen sie alle nur wegen der geilen Kellnerin.
In der Ecke kaut der blinde Schäferhund am Bein des Pastors. Seine Sonntagspredigt war grottenschlecht. Er sprach von Aufbruch und Umkehr. Hier, wo ein viel beschäftigter Mann die Einbahnstraße erfunden hat. Sein Urgroßvater mütterlicherseits. Das betont er immer wieder.

In diesem Moment wird es neunzehn Uhr und dreiundfünfzig Minuten. Die Kuckucksuhr fällt von der Wand. Es ist Zeit nach Hause zu gehen. Er durchtrennt die rosaroten Kaugummifäden die ihn mit der Sitzbank verbinden. Richtet Kragen und Krawatte. Der Kellnerin wirft er einen glühenden Blick und dem blinden Schäferhund fünfeindreiviertel Euro Trinkgeld zu. Dann nimmt er das Bein des Pastors und hinkt damit, wie jeden lauen Sommerabend, nach Hause. Nicht weit vom Café.