2012-01-30

new year's eve

nicht klarwerden möchten
nicht rückblicken werden
erkenntnis vorauseilend verkennen
2012

Meine Sch(w)einehe.

Eine Apologie für das Schwein und die Ehe um 10€.
[vgl. INDIE no. 30]

Seit ich denken kann und Mutters Klagen verstehe, friste ich ein Schweineleben. Ich esse wie ein Schwein, lebe in einem Saustall, mache und lache über schweinische Witze. Ich bin ungemein rauschig (im schweinisch-doppelten Wortsinn ‚betrunken‘ und ‚läufig‘), habe meine Jahre mit großen und kleinen Schweinen verbracht, manche geliebt, andere gegessen. Ich bin also ein Ferkel und das ist wahr: Würden mir zwischen 12 und 16 rosa Zitzen am Bauch sprießen, ich ginge als 1A-Zuchtsau durch.

Nun sind diese selbstironischen Erleuchtungen nicht besonders einzigartig, schon Kierkegaard dachte dies (er fühlte sich wie ein Eber der Lüneburger Heide) und auch Sie sind davon nicht ausgenommen: Geneigteste LeserInnen, Sie sind ebensolche Schweine. Und tief in unseren organgespendeten Schweineherzen fühlen wir: Das ist gut so! Tatsächlich ist es an der Zeit, ein für alle Mal die größten Irrtümer unserer Tage aufzudecken und unserer bürgerlichen Paarhuferentfremdung ein Ende zu bereiten. Erstens: Schweine sind nicht schlecht. Zweitens: Die Ehe ist nicht schlecht. Drittens: Eine Scheinehe ist vollkommen in Ordnung. Viertens: Selbst wenn all dem nicht so wäre, Geld macht es wieder gut.

Um diese willkürlichen Standpunkte zu untermauern, musste ich aktionistisch werden und beschloss, mich öffentlich zum Schwein in mir zu bekennen, meinem Leben in Sünde ein Ende zu bereiten, mir einen geilen Keiler namens Peter auszumalen und eine Sch(w)einehe einzugehen. 10€ später war ich ärmer und das Angebot von marryyourpet.com („happily ever after starts with MYP“) in Anspruch genommen:

Dear registrar,
I've just paid the 10€ for the "simple wedding" package via PayPal (what a profane way to begin an announcement like this), as I'd like to wed my lovely pig "Peter". I guess, that sort of marriage is rarely consummated, also because most people wouldn't consider a pig as a pet. Well, Peter is much more anyways. Would it be possible to send us the certificate in the course of the next days? We will be visiting Peter's family on the countryside the week after and would like to surprise them with this official celebration of our love.
All the best from Vienna,
Katharina and Peter


Ich hatte also beschlossen, so richtig Schwein gehabt zu haben und zwar auf ewig, bis dass der Tod uns scheidet. Der erste Schritt zum heiligen Bund der Ehe mit dem Schwein-Imago in mir war getan und ein JA-Wort gezahlt. Mein schönster Tag im Leben erschien in Form eines Akts der Selbstermächtigung (und wer kann das von seiner Hochzeit schon behaupten?). Die 10€ standen für das Ende der obligaten Zugehörigkeitsfrage: Das Plus-Eins? Der Jahreswechsel mit? Die grüne Twinnie-Hälfte wohin? Die Intimrasur für? Die bessere Hälfte war von nun an offiziell ich und sie suhlte sich fortwährend und ausschließlich im Dreck. Zynikerinnen wandten ein, ich sei damit den konventionellen Weg gegangen, wären doch alle Männer Schweine; darauf lachte ich höhnisch, sprach, „der Orgasmus eines Schweins dauert 30 Minuten“ und beglückwünschte mich insgeheim für mein praktikables Kettenmail-Wissen. Daraufhin, wie die Hauer ins Auge, die Antwort des virtuellen Standesamts:

Hi Katharina, I have no problem sending your certificate, only I have one general concern. In your mail you refer to consummating your marriage, I am offering a service where people can celebrate their LOVE of their pet - their commitment for life so to speak. I am entirely against bestiality. I imagine this is a misunderstanding, but you'll have to clarify this before I make and send your certificate.
D.


Bei besagtem Service war man also auf das Schlimmste gefasst, aber weder Aktionismus noch Fantasieschwein geeicht. Folglich unterließ ich Belehrungen über den künstlerischen Gehalt der Schafszene in Woody Allens „Everything You Always Wanted to Know About Sex* (*But Were Afraid to Ask)“ oder Edward Albees famoses Ziegenliebe-Stück „The Goat or Who is Sylvia?“, und versuchte der Bettfrage aus dem Weg zu gehen. Das deutsche Privatfernsehen hatte mich gelehrt: Fragen nach dem Sexleben darf die Behörde gar nicht stellen. (Sauerei!) Stattdessen gab ich Peter Form und Charakter und hoffte, auf diese Weise Sympathie und Segen zu erlangen: Peter hatte 1972 ein wunderschönes Gedicht geschrieben (das ich ungeniert mitsandte) und 1973 bestimmt ein zweites. Er war nachdenklich, großzügig und unfassbar schön. Er hatte Mandelaugen und eine ungewöhnlich britische Steckdosennase, er klickte und schnalzte, wenn ich seine Stelzen bürstete, und er schwärmte für Bonnie Tyler. Zuletzt hatte er ein Album mit Matthew Herbert aufgenommen („one pig“ – Töne aus dem Leben eines Schweins) und war trotzdem am Boden in unmittelbarer Nähe seines Futtertroges geblieben. Nach dem vollendet täuschenden Gesuch, gab die Behörde ihre Zustimmung:

Dear Katharina and Peter,
Thanks for the clarification - sorry, but I wanted to be sure. I'm glad I didn't have to annul your wedding before it had hardly begun. Now: Congratulations on your wedding! I wish you all the best and hope you have many glorious years together. Your certificate is now in the post. I loved the poem. How old is Peter? He's older even than me.
Warm regards from Amsterdam.
D.


Es dauerte nicht länger als einen Schwartenriss und wir waren ein Paar(huf) vor dem strengen Auge des Gesetzes. Heute besitze ich die Urkunde „to certify that on the 8th day of January 2011 Katharina Serles and Peter the pig were united in holy matrimony online by Marry Your Pet.com – Pet and People wedding specialists since 1905“. Eingerahmt hängt sie am Kopfende meines Bettes und kündet vom Ende einer langen Ahnenreihe und Anfang einer großen Ehrlichkeit. Wir haben uns getraut, die Allegorie meines Lebens und ich.

Man könnte Handke heiraten, oder sein Herzblatt, oder eben das Schwein in sich. Kein Zweifel aber, dass letztere Verbindung hält, in metaphorischen wie buchstäblichen Zeiten wird die ungetrübte 0%-Statistik der Scheidungsfälle zwischen Schwein und Mensch Ansporn genug sein. Und: Besser ein Ferkel im Ehestand, als ein Frettchen im Bett – zumindest der Stammtisch bedankt sich für derart deftige Anekdoten.

Jedenfalls ist alles wahr, das Sch(w)ein trügt nicht.
PS: Peter Serles.

2012-01-29

The Sleaze of Procrastination. Fadesse 2.0 am Computer

[so veröffentlicht im INDIE no. 29]
3%, 4%, 5%. Ich spüre die göttlich-hypnotische Gegenwart eines buffernden Videos. Draußen ist monotones Finster, die Welt und mein Metabolismus schlafen schon, mein Körper ist seit Stunden Sinnbild der Lethargie: Tief ist er in den Sessel gesunken, Augenlider und Unterlippe hängen schwer. Während das Video wie der brennende Dornbusch lädt ohne fertig zu laden, verhakt sich mein Computertunnelblick hoffnungslos in einschlägige Social Media Sites. Konkret wäre alles mögliche zu tun, stattdessen fröne ich der Langeweile und meinen Ersatzhandlungen von Nichts.

Standardsituation. Hallo heilige Zweifaltigkeit der institutionalisierten Langeweile und Prokrastination. Ich mache nichts und nichts ist das Zentrum meines Begehrens. Es wird nichts getan um etwas zu tun oder umgekehrt. Wir Prokrastinierenden glauben an die Langeweile und widersagen der Systemrelevanz.

Nirgendwo wird das deutlicher als in den YouTube Befindlichkeitschannels von Susi und Klaus Anonymous, den Beichtstühlen dieser Religion 2.0, die ich jetzt Clip für Clip probesitze: Mit großen Augen erklärt Susi, dass ihr Rasierer gut in der Hand liegt, Klaus hat eine Senftube auf seinem Kopf. Susi zieht einen Lidstrich, Klaus hat einen Hamster auf seinem Kopf. Betrachter und VideoLog Betreiber sitzen in gedachter Gleichzeitigkeit auf beiden Seiten des verpixelten Zwischengitters und prokrastinieren, saugen sich als Procrastinater und Procrastinatee parasitär aneinander fest. Spiegelhaft. Jede Stunde wird ein Tag an Videozeit online gestellt – unendlich dehnt sich verbrauchte Zeit auf YouTube. Gähn. Aber: Dem alten Werther hätte das gefallen, der hatte ja damals schon nichts zu tun als auf sich und seinen Herzschmerz zu rekurieren. In ihm begründete Goethe die heute so fetischisierte Selbstdarstellung mangels sonstiger Referenzmöglichkeiten. Mit dem Unterschied: Dazumal blieben Werther die Repliken seines fiktiven Brieffreundes Wilhelm noch erspart, heute wäre er binnen kürzester Zeit von der 4chan-Meute gemobbed und viral gegangen. Wie all die anderen aktuellen 12jährigen Werther-memes übrigens, die mit dem Exhibitionismusangebot nicht umgehen konnten, sich in einen fatalen Strudel von Entäußerung treiben ließen und die leichte Angreifbarkeit ihres Privatesten nicht mitbedachten – wir Prokrastinierenden kennen kein Beichtgeheimnis.

In der nächtlichen Einsiedelei, immer noch ideenlos vor dem Internet und Belanglosigkeiten ausbrütend, ist nur eines besser als die Teilnahme an fremden Langeweilen: die narzisstische Selbstbetrachtung. Ich bin mir ja selbst am interessantesten oder jedenfalls immer voll verfügbar. Zuerst filme ich mit versteckter Webcam wie ich so aussehe vor dem blauflimmernden Licht meines Bildschirms, bis ich die laufende Aufnahme tatsächlich selbst vergesse und fünfzehn Minuten später ein Dokument dieses Entgleitens besitze. Ich sehe mir beim authentischen Vergessen zu, bei der entfremdeten Langeweile und fühle mich total kafkaesk. Dann ein Webcamfoto von genau diesem Gefühl. Vor und nach dem Klick sehe ich meiner Inszenierung vor dem Computer zu. Bin Selbstbild, Wunschbild und Fremdbild zugleich – sogar dreifach determiniert obwohl mir eigentlich einfach nur fad ist. Wow. Ich halte fest, wie das so aussieht, die Langeweile. Von links. Und mit dem Finger in der Nase. Ich morphe Wangen, Lippen, Nase. Simuliere einen linken Haken. Klick um Klick archiviere ich Egosplitter im Selbstbetrachtungsalbum. Ein schneller Blick in den Webcam-Ordner offenbart: Meine Ichikonographien folgen der Ästhetik von Photo Booth: Da reihen sich Caravaggieske Ausleuchtungen vor diffusem Hintergrund aneinander, da gähnen mich Warhol-Serialisierungen meiner Zuckerschnute an. In den Myspaceprofilfotos und Facebookalben dieser Welt sowieso überall das gleiche Bild.

Und wer will das denn eigentlich wirklich noch sehen? Langeweile bei der Produktion, Langeweile bei der Rezeption. Aber das Internet platzt vor Hipster Dos and Donts – unendlich vervielfältigen sich die Ansichten zum Daumenkino. Störrisch hält sich dabei die (Un-)Perspektive des 21. Jahrhunderts: die kalorienbewusste umgekehrte Herrscherperspektive, statt von unten und erhöhend wird von oben abgebildet. Wer hat's erfunden? Dicke Buben oder die Fellatio-POV-Einstellung? Letzteres würde einmal mehr darauf hindeuten, dass die Selbstdarstellung die ganze Zeit schon einer unweigerlichen Autoerotik unterworfen ist – des Hineinspiegelns des eigenen Körpers in sexuelle Zusammenhänge: Die 51 Things I found around my house Videos all dieser random people auf YouTube zeigen mir dann also je 51 Fetische, die weiblichen Selbstinszenierungen von Scheitel bis zum Dekolleté den angelernten männlich-pornographischen Blick. Das macht auch Sinn: Am Zenit der Langeweile, in der absoluten Referenzlosigkeit, bleibt einmal mehr bloß der eigene Körper. Den Versuch der erotischen Vereinigung mit seinem Spiegelbild kennen wir schon von Narziss. Die Konsequenz -

- it's time to masturbate. Ich folge meiner Argumentation und bediene mich in meiner nächtlichen Apathie der traditionellsten und häufigsten Ersatzhandlung. Yes, I'm choking the chicken, spanking the monkey and bashing the bishop while I'm driving Miss Daisy, fiddling the bean, airing the orchid, shucking the oyster and banging the box. 1982 hat Marvin Gaye den intrinsischen Zusammenhang von Prokrastination und Masturbation in "Sexual Healing" besungen: "Please don't procrastinate, it's not good to masturbate". Und die Verwandtschaft geht noch weiter zurück, ist ebenso empirisch belegbar wie kultursoziologisch einleuchtend: Die moderne Leistungsgesellschaft tabuisiert das Nichtstun, das christliche Abendland verdammt die Onanie. Wir, die wir das Wort „Prokrasturbation“ erfunden haben, wir können beides – ona non labora! Und empfinden gleichzeitig dieses in unserer Kultur so lebensnotwendige, jetzt selig potenzierte Schuldgefühl, das wir mit der Muttermilch aufgenommen haben. Nach dem ganzen Schauen dieser Nacht, geht es also endlich ans Eingemachte. Hand und Sexualorgan sind verfügbar und der Orgasmus verspricht die Aufhebung der Langeweile-Zweifaltigkeit im Elysium. Es folgt langwieriges Auswählen der Porno-Menü-Konstellationen auf der Pornowebsite des Vertrauens. Heute eher drei und davon eine älter? Blond, brünett oder im Plastiksackerl? Die überwältigende Fülle ist zwar einmal mehr himmelschreiend eintönig – immer wieder dieselben Strukturen und Bildtraditionen, Stöhn-Konserven und Körperpassformen –, aber ein bisschen läuft die Befriedigung auch über Wiedererkennung because the internet is for porn and bores.

Schneller als gewollt ist alles vorüber, der Bildschirm wird wieder einzig nüchtern-nacktes Element im Raum und Bonaparte flüstert mir ins Ohr: „I know you better than you know yourselves / You stare at me when you touch yourselves / When you watch computer, computer watching you“. Es ist an der Zeit, lethargisch zu nicken. Wie wahr, die Fadesse 2.0 wird televised, gestreamed oder auch nur paranoid als ständig beobachtet – weil vor dem Auge der Webcam sitzend – empfunden. Die technische Selbstreflexion, der Computer als Zwischenmedium zur Ersatzhandlung motiviert das: Sofort ist die Langeweile festgehalten, durch das glory hole Internet verbreitbar und als mediales Produkt ganz easy institutionalisiert und nobilitiert. Das Phänomen Chatroulette ist übrigens die Einlösung dieser Haltung. Wir sind uns nicht zu blöd uns auch live bei der absoluten Prokrasturbation zuzusehen und jeden zusehen zu lassen; ob der nun mitfilmt oder unsere Mutter ist: Einmal zugeschalten klickt man sich durch zwei bis drei stierende Fremde und hunderte gestreichelte und berubbelte Penisse. Das passiert so bei uns daheim wenn uns langweilig ist und es ist in den Entstehungsumständen und Implikationen gar nicht zu unterscheiden vom Badezimmer-Handy-Einarmfoto.

Ich kann mich also bei Chatroulette zuschalten und mich in die Riege der Dauermasturbierer einreihen, ich kann meinen Körper fotografisch abtasten, im Videolog über all diese Erkenntnisse reflektieren, oder einen Artikel darüber schreiben. Es bleibt dasselbe. Ob der eigene Körper beobachtet wird, oder ein fremder. Ob dabei Hand angelegt wird oder nur ein Webcamfoto-Ordner. Das Gebot der Stunde bei Internet-Boredom (weil eh nichts anderes übrig bleibt): Procrasturbate. 6%, 7%, 8%.

aberystwythly twisted (the wave pictures - beer in the breakers)

[so erschienen - erraten - im INDIE nr. 31]

Mit nicht unwissenschaftlicher Gewissheit steht fest: Würde Virginia Woolf jemals mit einer Mundharmonika und einem warmen Pint zwischen Dumpsters in einem südenglischen Hinterhof gesessen haben, hätte sie diese Musik gemacht (vgl. Gscheit, Frau: Klangvolle Musikvergleiche für den Hausgebrauch. Suhrkamp 2011). Es ist das unbestrittene Verdienst der Wave Pictures und allen voran ihres lyrischen Kopfes Dave Tattersalls, dass wir heute wissen, wie das klingt. „Beer in the Breakers“ ist nun eine Anthologie ihres Schaffens: An einem Tag unter der Schirmherrschaft Darren Haymans (Hefner) mit den bewussten Abstrichen und Unpoliertheiten eines Live-Albums produziert, lässt es sich musikalisch endlos viel Zeit. Es ergeht sich in selbstvergessenen Gitarrensoli, holt Urgesteinsongs aus Daves Schulzeit hervor und verpackt dunstige Erinnerungen in E-Moll und Otis Rush-Verbeugungen. Tattersalls Lyrics sind große Literatur: Zwischen Merkwürdigkeiten („there’s a killer in the rain / there’s a lady in the lake / a picnic in the pentagon / a manchild on the make“) und mehr Merkwürdigkeiten („behind the crackle of your eyelids / the pale yellow of your teeth / you said: walk the back stairs quiet“) brechen Zungen („Aberystwythly twisted“) und eine Sprachwelle nach der anderen an der Küste – nicht weit weg vom Lighthouse.

don't tell me I'm nuts - grow some (tyler, the creator - goblin)

[leicht gekürzt aber im prinzip so nachzulesen im INDIE, nr. 31]

Kennst du den schon? Kommt ein Steve-Urkel-Verschnitt Jahrgang 1991 mit ADHS, Asthma und 150.000 Twitter Followers daher und sagt: „I'm the hottest nigga right now, like I got niggas on my dick”. Kein Witz. Tyler the Creator ist nicht nur namentlich „hungry for greatness“ und immer noch im Wachstum („I Think I Grew In The Past Couple Months. I Think I'm Officially 6'2. I Hope So Fuck.“), er und das von ihm gegründete Rapper-Skateboarder-Chutzpah-Kollektiv „Odd Future Wolf Gang Kill Them All“ – OFWGKTA – gelten als „the future of HipHop“, sollen N.W.A. und Wu-Tang Clan in Radikalität und Düsterheit ablösen.
But the future is now, ihr voraus geht bereits ein ganzes Lebenswerk an Musik (18 selbstproduzierte Kollaborationen!) und unermüdliche Selbstinszenierungen on- und offline: Ein Rudel von blutjungen Hunden wird da nachgestellt, das die Welt mit ungemeinem Hunger überfällt und destruiert. Beim Stagediving bricht Tyler Arme, Nasen und Schädel, All-Ages-Shows werden zur angekündigten „Living Hell For Any One Over 22 With A Job Who Takes Life Seriously, Simply Because of The Level Of Not Giving A Fuck And Immaturity“. In dieser übersteigerten, auf sich selbst zurückgeworfenen Adoleszenz stilisiert sich Tyler zum Peter Pan, imaginiert Goldilocks-Vergewaltigungen und beschreibt seinen Sound mit „Hitler Fucking Dr. Suess“.
Den „dark shit“ den er dabei herauskotzt, trägt jeder in sich, ausdrücklich wehrt er sich gegen Biographismen in seiner Rezeption: „It’s fucking art, listen to the fucking story.“ Konsequent ist also seine Inszenierung als „fucking walking paradox“ und als Konglomerat multipler Rap Personae wie „Dr. TC“ (Tyler’s Conscience) oder „Wolf Haley“ (the evil white serial killer) im nun ersten kommerziellen Album „Goblin“. OFWGKTA stehen für einen neuen HipHop der Verletzbaren, als zitiertes Rapping for Columbine: Eine Generation tritt an, die mit Waffen in der Hand nicht weiß wohin sie zuerst schießen soll, in der Depression, aufgeschnittenen Pulsadern und Self-Respect im „lost and found“ jedes Horror-Rapecore-Aggressionsmoment umso düsterer erscheinen lassen.

„Goblin“ ist am 10. Mai 2011 auf XL Recordings erschienen.

badam badam badabadam badam (balthazar - applause)

[fast so nachzulesen im INDIE no. 32]

Wenn Wachs-in-den-Händen-eines-anderen-sein irgendetwas mit Liebe zu tun hat, dann sind Balthazar ein einziges Venusfest und ihre so nonchalante psychomotorische Stimulation gemeingefährlich. Auch dieser Text hat sich wippend und smooth in die Kurve gelegt schreiben lassen müssen und fühlt sich jetzt ein wenig benutzt. Das dominante Vibrieren der Bassgitarrenseiten hat sich direkt auf sämtliche Muskelfasern der eigentlich so pflichtbewussten Rezensentin übertragen und sie in den Offbeat-Äther entschweben lassen. Was sich hier noch nachlesen lässt, ist der synkopisch getippte Totalausfall von Körperbeherrschung. No shittin, dawg, das belgische Quintett puts the groove back in groove so we can groove while we groove. Elegant wird da die Tonleitern rauf und runter geglitten, werden ganz entspannt sämtliche Musiklandschaften von Indierock bis Jazz touchiert und bei mid-tempo in restlose Schwingung versetzt. Seit Putting on the Ritz sind selten ähnlich kunstvolle Achterbahnmelodien so locker rausgehaut worden. Die Geschichte dahinter liest sich auch noch wie der belgische Oliver Twist: Vor etlichen Jahren sind zwei von ihnen an unterschiedlichen Ecken einer dichtbefahrenen Straßenkreuzung gesessen und haben die Passanten bespielt. Zwischen graunassen Kötern und spärlich-gefüllten Cordmützen ließen die damals Vierzehnjährigen ihre Lieder gegeneinander antreten, bis Oliver-Maarten hier und Twist-Jinte dort den Wettstreit der Straßenmusikanten zugunsten des gemeinsamen Projekts beendeten und den Rest dazuholten. Das Ganze bekam sein „motherfucking Disney-ending“: Dem professionell selbstproduzierten und mehrfach ausgezeichneten Debutalbum „Applause“, das 2010 schon in Belgien erschienen ist und uns diesen Herbst europaweit beglückt, wird 2012 schon ein zweites zur Seite gestellt werden. Badabadam.

„Applause“ ist auf PIAS Recordings erschienen.