2010-12-26

postweihnachtliche darm- bzw. eulenspiegelung

zwei themen dominieren ein- und ausdrücklich die weihnachtsfeiertage:
1. der weihnachtsbraten
2. die weihnachtsbratenverdauung

in catalunya wurden dieser zusammenhang und seine bedeutung früh erkannt und seit dem 17. jahrhundert mit dem (1) 'tió de nadal' oder 'caga tió' und der figur des (2) 'caganers' entsprechend gefeiert - hier warten die kinder weder auf das christkind noch auf den weihnachtsmann, sondern auf kackende gestalten:


(1) der 'kackende holzscheit' (bzw. nimmt man 'tío' spanisch - der kackende onkel) wird über weihnachten antropomorphisiertes familienmitglied, von 8.12. bis 24.12. gefüttert und zärtlich mit einer decke gewärmt, auf dass er wachse und gedeihe. am 24. oder 25. verlangt die natur ihren tribut und des tíos großes geschäft einige aufmerksamkeit: singend und mit stöcken auf ihn einschlagend wird ihm zur ausscheidung verholfen, bis er sich der geschenke mit einem großen furz entledigt - das geht oft so lange, bis er heringe ausscheidet oder uriniert, dann hat der segen ein ende. wer das nicht glaubt, konsultiere youtube und memoriere demütigst die folgenden verse:
caga, tió (scheiß, tió) / d'avellanes i de pinyó (haselnüsse und pinienkerne) / pixa vi blanc (piss weißwein) / de les festes de nadal (zum weihnachtsfest). / caga, tió (scheiß, tió) / caga, tió (scheiß, tió) / si no vols cagar (wenn du nicht scheißen willst) / et donaré un cop de bastó (werde ich dich mit einem stock schlagen).

(2) die defäkations-krippenfigur des 'caganers' gehört zum fixen inventar der weihnachtlichen nativitäts-szenen. zumeist in der ecke, immer aber als essentieller bestandteil, kotiert da ein gratulant. meine lieblingserklärungen für seine rolle sind: "the caganer represents the idea that god will manifest himself when he is ready, without regard for whether we human beings are ready or not." und: "the caganer was the most mischievous and out-of-place character of the otherwise idyllic landscape; he was the "other", with everything that entails, and as the "other", was accepted, in a liberal vein, as long as he did not aim to occupy the foreground. the caganer represented the spoilsport that we all have inside of us, and that's why it is not surprising that it was the most beloved figure among the children and, above all, the adolescents, who were already beginning to feel a bit like outsiders to the family celebration." (zitiert nach wikipedia, dort übersetzt von den amics del caganer)

wunderschöne worte dazu auch von unserer katalanischen außenkorrespondentin flo l.:* "ich war überrascht, dass an weihnachten in barcelona plötzlich alle vom 'kacken' reden, vielleicht ist auch sinnbildlich die verdauung des vergangenen jahres gemeint. letztendlich zielt das katholische katalonien auf vergebung. die reinigende verdauung. wenn nicht an weihnachten, wann dann?"

also genieren sie sich nicht. keine scheu vor konsistenzrapp(b)orts. am abort sind wir allein gemeinsam. fäkalinteresse verspricht seelische erleichterung - schon der kleine maulwurf wollte wissen, wer ihm auf den kopf gemacht hat. am besten also, wir finden gleich einen künstlerischen zugang zur ureigenen produktivität, wie das etwa manzonis merda d'artista (1961) ebenso wie wim delvoyes cloaca (2000) oder mccarthys complex shit (2008) vorführen.

Wim Delvoye, Cloaca (2000) | Piero Manzoni, Merda d'Artista (1961) | Paul McCarthy, Complex Shit (2008)

selbst-referentialität ist dem kotkunstdiskurs in die wiege gelegt, deswegen macht er auch so großen spaß ('dieses werk ist doch scheiße!' 'das kann doch jeder!'). und auch was die sprinkle brigade unter dem motto 'just leave it. we got it' mit hundekot anstellt, ist ebenso komisch wie galleriewürdig.
weiterführende gespräche unter dem abnadelnden tannenbaum könnten sich mit den etymologischen zusammenhängen von sessel-kot-stuhl beschäftigen. damit, was konnotativ passiert zwischen 'that's shit' und 'that's the shit!' und ob aus vergangenheitstopos-gründen aus verdautem seltener die zukunft gelesen wird, als aus dem relativ unpersönlichen teesud. stellen sie sich unbedingt auch folgende frage: wieso kotieren wir in klaustrophobischen kleinsträumen? doch bloß hoffentlich nicht um der alliteration willen! mit erschrecken ist festzustellen, dass wir just in bezug auf den so früh erkämpften frei- und privatraum unserer gesellschaft nicht einmal beinfreiheit fordern. und dass ausscheidungs- und unabhängigkeitsdiskurs intrinsisch verwoben sind - man denke an den vorgang des trockenwerdens in der kindheit, die emanzipation von zäpfchenmedikament und analer fiebermessung und den zeitpunkt der erschlossenen, mama-unbegleiteten privatsphäre 'wc' - das sollte doch auch räumlich honoriert werden, n'est-ce pas?

aber um den z(k)otigen späßen unbedingte wissenschaftliche relevanz zu bescheinigen: passend zur feiertagsthematik ein paar auszüge aus meiner seminararbeit der älteren deutschen literatur zu till eulenspiegel mit dem unbedingt verführerischen titel:

„Er verkouft ihn seins Trecks für Prophetenbeer“
Fäkalmotivik und Grobianismus in Dyl Ulenspiegel


Die grobianischen Schwänke in Dyl Ulenspiegel sind „als die ältesten überlieferten Schwänke belegt“ und offenbaren demnach einen „Ur-Eulenspiegel“ (Wodraschka 2007, S. 29.). Bei Wunderlich heißt es sogar:

Der Grobianismus, d. h. die Zurschaustellung des Unflätigen, Schmutzigen und Ekelerregenden in der Betonung gerade der niedrigsten Körperfunktionen des Menschen, gehört ja zu den auffallendsten Kennzeichen des Volkbuches von Ulenspiegel, unterscheidet es, was die Häufung derartiger Motive betrifft, von allen übrigen Schwankromanen und ist auffallend selbst für eine Zeit, von der Brant einmal gesagt hat, sie habe sich Sankt Grobian als neuen Heiligen erwählt. (Wunderlich 1979, S. 121f.)
Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der skabrösen Thematik einige befremden mag, ist möglicherweise Grund für die spärliche Bearbeitung der Schwanksammlung in dieser Hinsicht. Die Untersuchungen zu skatologischen Elementen beziehungsweise der Fäkalmotivik und anderen Veräußerlichungen des Körperlichen in Dyl Ulenspiegel beschränken sich auf einzelne Artikel, die vor allem im Jahrbuch des Freundeskreises Till Eulenspiegels e. V. erschienen sind. Eine Systematisierung der betreffenden Historien ist in diesem Rahmen bisher nicht erfolgt, dies versucht die vorliegende Arbeit nachzureichen. Fakt ist, dass der überwiegenden Anzahl grobianischer Schwänke bisher nicht durch intensive Forschungsarbeit Genüge getan wurde und auch ganz allgemein angesichts ihrer Bedeutung für die Schwanksammlung ein etwaiges Gefühl von Befremdlichkeit am falschen Platz zu sein scheint.

mit unbedingtem stolz verweise ich hiermit auch auf eine tabelle wie sie die welt noch nicht gesehen hat: ein vollständiges verzeichnis der fäkalhistorien und grobianischen elemente im dyl ulenspiegel zur grundlage systematischer skatologie-analysen - done, of course, by katharina serles. (auf anfrage erhältlich ;)

Für die Schematisierung wurde zunächst quantitativ gearbeitet, d. h. es wurden jene Historien ausgewählt, die grobianische Bilder beinhalten: Dazu gehört die Beschreibung und der Einsatz des Gesäßes, der verschiedensten Ausscheidungsprodukte und Körpersekrete und der damit verbundene Einsatz von Purgatorien, die verschiedenen Nennungen des Aborts, Inzidenzien von Koprophagie und Kotmantik und ferner Besudelungen durch Fallen in den Dreck. Auch auf die Holzschnitte wurde Rücksicht genommen und ihre motivische Aufnahme eben genannter Topoi dokumentiert. Für die qualitative Analyse wurde
darüber hinaus notiert, in welchen Fällen der grobianische Akt als Bestrafung durchgeführt wird, ebenso, wann dies textimmanentes Lachen bewirkt. Die Ergebnisse wurden schließlich mit den seit Peter Honeggers Fund des Druckes von 1510/1511 aktualisierten und am häufigsten verwendeten Historienschematisierungen verknüpft, beziehungsweise die beiden Raster übereinandergelegt, um auch über die einzelnen Abschnitte Aussagen treffen zu können.

wer sich jetzt übrigens wundert, derartige skabrositäten aus seiner kinderbuchlektüre des eulenspiegels nicht zu erinnern - JA, die wurden tatsächlich in allen mir bekannten bearbeitungen zensiert, man ging von veränderten humor- und rezeptionsverhalten aus. genau dazu noch ein letzter auszug meiner arbeit zum berühmt-berüchtigten '2 girls and 1 cup'-video:

Angemerkt sei an dieser Stelle, dass 2007 ein koprophages Video im Internet Furore machte, dessen Faszination aus eben jener Mischung von Ekel und Komik resultierte, die für den Ulenspiegel so oft als unmöglich bezweifelt wurde: „2 Girls and 1 Cup“, ein skatologischer Porno, wurde binnen kürzester Zeit zum Internet-Meme: Von eigenen Songs (vgl. „2 Girls and 1 Cup Song“ des kanadischen Comedians Jon Lajoie), populärkulturellen Referenzen (vgl. die Parodie des Sängers John Mayer oder die Referenz auf das Video in der Episode „Back to the Woods“ von Family Guy), bis zur Untersuchung in einer Vielzahl kulturwissenschaftlicher Aufsätze existieren zahlreiche Bearbeitungen des Phänomens. Auf YouTube lassen sich mittlerweile über 5000 'Reaction-Videos' ansehen, die das Herzstück der Popularität des Videos darstellen: Die User schneiden hier live (manchmal mehr oder weniger inszeniert) ihre fasziniert-angeekelt-amüsierten Reaktionen auf das Video mit. Was dieses Phänomen so interessant für unseren Kontext macht, ist einerseits der zeitgenössische Beweis des komischen und populären Potentials von Skatologie, andererseits auch der Beleg für eine Vorrangigkeit und Wirkmacht der Wirkungsästhetik: Soll Obszönität komisch sein, bedarf es der bis zu einem gewissen Grad gleichzeitig implizierten Reaktion – ob sich nun das Opfer sichtlich ekelt oder jemand etwa intradiegetisch lacht. Auf diese Weise werden auch im Ulenspiegel komische 'Markierungen' vollzogen.

damit haben sie wohl jetzt genug zu verdauen.

quellen: Wodraschka, Eva: Tabu und Tabuwandel fäkalischer Motive am Beispiel des Straßburger Eulenspiegelbuches und der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Eulenspiegel-Jahrbuch 47 (2007), S. 29. // Wunderlich, Werner: Eulenspiegel-Interpretationen. Der Schalk im Spiegel der Forschung 1807-1977. München: Wilhelm Fink 1979, S. 121f.

*überhaupt: specials thanks for those precious catalonian fun facts to florine, soren and his mum. bon nadal i feliç any nou!

2010-12-24

rohes freimachen!

2010-12-17

ginka steinwachs’ berliner trichter - berliner bilderbogen nachgehen

ein ambula-litera-torium oder:
eine literaTOUR* von katharina serles
berlin, 01.12.2010


textzitate aus: steinwachs, ginka: berliner trichter - berliner bilderbogen. wien: rhombus verlag 1979. ['bt' = berliner trichter, 'bb' = berliner bilderbogen]





*mit dank an stephanie serles für die wortspielerische anregung

2010-12-15

mund auf der zunge zergehen lassen

wenn sie jetzt bitte den
mmmmmmuuunnnddd
aaauufmachen würden?
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaa.


sehr schön! jetzt können die gedanken fließen (fernab von diplomarbeits-professionalitäten): mit 17cm spannweite besitzt francisco domingo joaquim den weitesten mund der welt. gratulation. von mund zu mundus (lat. welt) sind es also räumlich 17cm oder, wem das nicht recht munden will, zeitlich viele jahre zurück ins 17. jahrhundert (wo wir dem theatrum mundi begegnen, hallo!).

Auff den mund [auf! den mund!]
MUnd! der die seelen kan durch lust zusammen hetzen /
Mund! der viel süsser ist als starcker himmels=wein /
Mund! der du alikant des lebens schenckest ein /
Mund! den ich vorziehn muß der Inden reichen schätzen /
Mund! dessen balsam uns kan stärcken und verletzen /
Mund! der vergnügter blüht / als aller rosen schein.
Mund! welchem kein rubin kan gleich und ähnlich seyn.
Mund! den die Gratien mit ihren qvellen netzen;
Mund! Ach corallen=mund / mein eintziges ergetzen!
Mund! laß mich einen kuß uff deinen purpur setzen!
christian hoffmann von hoffmanswaldau (1616-1679)

genau dort holt uns ginka steinwachs ab, wenn sie ein gaumentheater des mundes entwirft: in anlehnung an schillers moralisches theater vernachlässigt sie ein m, das ohnehin bereits in mund enthalten is(s)t, und macht daraus das oralische theater. dabei wird der mund und nicht das auge „organ von welterfahrung“ - gertrude stein lässt sie dazu sagen: "mit dem mund fängt alles an. ich nehme welt mündlich" (steinwachs, ginka: stein, wachs! wien: passagen 2005, s. 47). oralisches theater bedeutet auch: sprache ist speise. sprache wird zerkaut, eingespeichelt, im zungenschlag geformt, importiert und exportiert, und darf auf gar keinen fall fad schmecken, frei nach den drei l: ludisch lullisch lukullisch (du kennst das prinzip schon von den drei s des ü-eis: spiel spaß und spannung).



der mund als faszinosum, die oralische passion statt regression - dem leser, der leserin geht bei steinwachs bestimmt zumindest der mund auf, bleibt offen stehen wo mund zu welt verDICHTET wird.

dass steinwachs mehr will als bloß eine tomate, trennt sie von samuel beckett. und trotzdem ist er ihr in sachen mund näher als gedacht: ebenfalls in den mundfertigen 70ern schrieb er 'not I', ein theaterstück, dass alleine den mund zu wort kommen lässt - hier die zweite inszenierung mit billie whitelaw als 'mouth' (1973):



wird der mund bei beckett von allem losgelöst auf eine bühne gestellt, wird er bei steinwachs selbst zur bühne und der zuschauerraum zum mund: "von den rängen [...] hängen geschmacksknospen purpurschneckenrot. das zäpfchen ein lüster. auf den stufen weicher, roter zungenteppich. die bühne hinter zähnen" (steinwachs, ginka: stein, wachs! wien: passagen 2005, s. 67). ein solcher bühnenmund (allerdings nicht das originale gaumentheater des mundes) ist in einem ausschnitt aus karin bandelins schönem kurzfilm 'ginka steinwachs' (praun productions 2010, 9:40 min) zu sehen.

wenn sie jetzt bitte den
mmmmmmuuunnnddd
zzzuuumachen würden?
mmmmmmmmmmmm.
vielen dank!


ps: merkst dus auch? hiermit als fake gekennzeichnet. patent: originkalzitat. g.s. plosiv ist k.s.

2010-12-14

vorsicht, nicht knicken (fotos - porzellan)

[INDIE magazin No 28]

Belichtungsblinzeln. Musik liegt im Entwicklerbad der Fotos-Dunkelkammer. In Lösung schwebend fügen sich erste Schatten zu einem Neuen zusammen, aus gleißendem Nichts erscheinen zuerst Töne dann Bilder. Und wie aus dampfendem Nebel, aus einem verschwitzten Fiebertraum, steigt „Porzellan“, das 3. Album, noch schwer von der Nacht, vollgesogen mit erträumten Klängen und bildhaft wie noch nie. Es ist jetzt Musik, die ein wenig Mythos zurückgibt: Sie schwillt aus dem Sphärischen an, verweilt dröhnend Shoegaze-entrückt, erinnert an Steve Reich und Brian Eno, knistert im Hall der Vergangenheit – und zer-schallt wieder in bodenhaftendem Powerpop. Die Sicht auf den Grund bleibt bei all der technischen Rafinesse immer glasklar, manchmal erscheint der Fotos-Sound regelrecht nüchtern-nackt. Die haptischen Texte strahlen schneeweiß, blutrot und rabenschwarz, stecken Insekten auf Nadeln, essen Papier und schmecken betaute Haut. Vorgetragen von Tom in verführerisch einsilbigen Endreimen, english-infused und in Gänsehaut -Tonlagen und -Manierismen. „Gibt es ein Wort das trifft?“ – Die Fotos entwickeln einen morbiden Minimalismus der sich gefühltermaßen profaner Beschreibung entzieht. Musik ins Stopp- und Fixierbad. Licht an. Auf dem Foto: ein Porzellan-Epitaph für begrabene Dämonen.

nicht verlaufen (maps & atlases - perch patchwork)

[INDIE magazin No 28]

Großtantendidaktik besagt: Es lohnt sich den verschlungenen Weg zu gehen. In braver innerer Hänschenkleinmanier packten also Maps & Atlases ihre metaphorischen Stullen und navigierten 6 Jahre lang durch den Dschungel fingertechnischer und metrischer Kunstfertigkeiten des Progressive Rock. Nach der Erschließung von avantgardistischer Polyrhythmik und kontrapunktischem Stil schlugen sie die Zelte im Studio auf und kondensierten ihr musikalisches Ausnahmekönnen zum Debutalbum „Perch Patchwork“: Das ist buchstäblich eklektizistisch aber – surprise – stringent wie ein Konzeptalbum und angenehm poppig ausbalanciert. Highlights: Chris’ variable Drums und Davids fiebrige Raspelstimme, die von falsettartigem Scat-Wettstreit mit der Gitarre fließend zur sonoren Erkenntnis „I don't think there is a sound that I hate more than the sound of your voice“ wechselt. Den harmonisch komplexen Klang machen dann noch feingliedriges Fingertapping, Blechbläser, Saxophon und Streichinstrumente. Und wem zwischen Walzer- und 7/8-Takten schwindlig wird, hilft das Koordinatensystem der 3 Instrumentalstücke „Will“, „Is“, „Was“ an den richtigen Stellen im Album gegen Ohr-ientierungsverlust.

2010-11-26

piratepadgedanken - ein online palimpsest

neulich (nächtlich) auf piratepad...

"Welcome to PiratePad! / This pad text is synchronized as you type, so that everyone viewing this page sees the same text. This allows you to collaborate seamlessly on documents!"
And this pad text has already been written on safe (openoffice)homeland soil.
It's just been inserted.
Because I can.


t a s t s... - oha! die doppelbedeutung! tatsächlich. synchronschreiben:
zeig mir wie du tippst und ich sag dir was du denkst.

oh du schönes palimpsest. das literaturwissenschaftsglück über die beiden werther fassungen. die freude über durchgestrichene schnitzler worte von generationen von nachlassforscherInnen. editionseuphorie. spreading the joy since moses and his gesetzestafeln. du lässt über schultern direkt in den kopf blicken.

palimpsest ist das wort das trifft. aber ein palimpsest bloß auf unserer netzhaut. nur für augen die daran heften bleiben (bis man den timelinebutton entdeckt. dann nämlich auf ewig). jedenfalls: ein online palimpsest in echtzeit.

ich sehe, was du autorIn denkend tippst. tippend denkst. was du löschst. bis du es gelöscht hast. ich sehe deine prozesshafte gedankengenese. ich sehe sie deutlicher als du, weil ich mich ganz auf die choreographie deines schreibens und löschens und schreibens und löschens konzentriere. buchstabentanz. das fühlt sich verrückt direkt an. ich finde mich mitten in deinem sprachzentrum wieder.

dabei wird schriftlichkeit nicht mündlicher - die hybridität berührt eine andere sphäre: schriftlichkeit wird gedanklicher. ich sehe, was du löschst und kann überlegen wieso. ich sehe, dass du über dieses eine wort nachdenkst. ich sehe, was du trotzdem wieder genauso tippst. ein zweites mal. ein drittes mal. verschiebst. wo du absetzt um gedanken zu ordnen. verschriftlichte zeitlichkeit und verzeitlichte schriftlichkeit lassen mich dein textgefühl nachempfinden.
zeig mir woran du feilst und ich verstehe besser was du sagen willst.

schreiben ist arbeit. die bilder im kopf finden, selbst verstehen lernen, auswringen bis zum klaren restbestand (der feuchte fetzen wird schneller wieder nass!) und dann erst recht wieder das handtuch werfen. tabula rasa per delete taste und noch einmal.
besonders deutlich wieder dank piratepad.

ja, du autorIn übersiehst über all deinen ideen und konstruktionsgedanken die historiographie deines texts. wo er schon war, welche anderen texte er war, sein hätte können. du siehst nicht so bewusst wie ich, wie sich deine buchstabenschlange fortbewegt, an wände stößt, magisch an anderen stellen neuauftaucht und sich immer wieder selbst auffrisst.

und das ist gut so.
sonst würde dir auch schwindlig.

but i can. und das begeistert nachhaltig für das phänomen text.

ja und als ende? ende ist
kein ende. der text schreibt sich fort.

und wie das alles mit der chatfensterkolonne rechts daneben zum metainterhypersupertext wird, mit kristeva, steinwachs und dem barock zu tun hat und wieso wir uns überhaupt gedanken machen, lesen sie in der nächsten ausgabe.

2010-08-06

Do you remember how you got here? If not, this most definitely is a dream.

Ein subjektiver, mit Spoilern gespickter Rückblick auf Inception (2010, Regisseur Christopher Nolan)
von Maria Szmit

Our revels now are ended. These our actors,
As I foretold you, were all spirits, and
Are melted into air, into thin air:
And like the baseless fabric of this vision,
The cloud-capp'd tow'rs, the gorgeous palaces,
The solemn temples, the great globe itself,
Yea, all which it inherit, shall dissolve,
And, like this insubstantial pageant faded,
Leave not a rack behind. We are such stuff
As dreams are made on; and our little life
Is rounded with a sleep.

(Shakespeare,The Tempest)

An dieser Stelle soll Sigmund Freud nicht einmal erwähnt werden. Weder dessen Annahmen über die Verdrängung sexueller Wünsche und deren Manifestierung in wirrer Traumsymbolik, noch soll der überaus beliebte bildliche Vergleich der Spitze des Eisbergs herangezogen werden, die als sichtbarer Teil des Bewusstseins im Meer der Möglichkeiten über den hilflos dahintreibenden Korpus unverarbeiteter und vorbewusster Materie hinwegtäuscht. Ein Eisberg spielte ja auch die heimliche Hauptrolle im bis vor kurzem erfolgreichsten Film aller Zeiten (bis bläuliche 3D animierte Wesen die Bildfläche betraten, double strike für Cameron), dessen damals und heute wahrscheinlich noch immer von unzähligen jungen Mädchen angehimmelte Protagonist Dicaprio in einer ergreifenden Szene nach einem letzten Blick in die Augen seiner Geliebten von den Untiefen der atlantischen See verschluckt wird. Nun über 10 Jahre später, Leo erwacht wieder am Strand, umspült von den sanften Wellen seines eigenen Unterbewusstseins, Ellen Paige alias Ariadne in die Augen blickend, die ihm helfen soll den Weg durch das Labyrinth der eigenen Verdrängungen zu finden bzw. den roten Handlungsfaden in diesem Action-beladenen Thriller im psychologisch-philosophischen Deckmantel zu bewahren.

Inception, das Vordringen zum Grund der eigenen Psyche, Traumwandeln, gaze into the abyss and it will gaze right back into you. Leo bzw. Cobb hat sich Nietzsches Worte zu Herzen genommen und lustwandelt in bzw. ballert sich durch eigens konstruierte Traumwelten, Psychoanalyse meets Matrix. Virtuelle Welten, zusammengesetzt aus realen Erfahrungen, Eindrücken, Erinnerungen, treffen auf Traumlogik und werden progressiv gesteigert bis zum Selbstverlust in den unendlichen Weiten des Limbo, einer sich konstant de- und rekonstruierenden Wirklichkeit. Diese stellt zugleich das letzte Level der Inception dar, der Reise zum Mittelpunkt der Psyche oder an die Basis des Eisbergs – und warum das Ganze? This is not your usual espionage, meint Cobb zu seinem zwielichtigen Klienten, im Grunde aber vielleicht doch.

Ja, die Grenzen von Wahrnehmung, Zeit, Physik werden ausgedehnt – irgendwo auf der temporalen Achse von Traumzeit im Film, der Ausdehnung entlang der verschiedenen Levels im Traum (10 Sekunden im Level 1 = 1 Stunde auf Level 3 oder so ähnlich) und nicht zu vergessen der tatsächlichen Dauer dieser Ereignisse im Film verliert der Zuschauer tatsächlich jegliches Gefühl für zeitliche Einheiten. Unterstützt wird diese Wahrnehmungserweiterung- oder Zersetzung durch visuelle Kunststückchen vom Feinsten, sei es das Sprengen und bildliche Zerbröckeln konstruierter Welten, Spaziergänge durch ein gespiegeltes Paris, Wägen, die in Zeitlupe von Brücken stürzen oder Kampfszenen, die im schwerelosen Kraftfeld ballettartige Züge annehmen.

Nicht zuletzt die zentrale Frage, welche sich bis hin zum unvermeidlich suggestiven Ende (SPOILER ALERT) aufdrängt: Wie sicher können wir uns sein, in der Realität zu leben oder den Anspruch an eine einzige, existierende Wirklichkeit erheben? Der Tod als Mittel der Transition in eine andere Wirklichkeitsebene ist seit der Vorstellung eines Jenseits fester Bestandteil abendländischen Gedankenguts, anstatt jedoch auf eine paradiesische posthume Existenz zu hoffen, entscheidet sich Mal, Cobbs Ehefrau (gespielt von Marion Cotillard), den paradiesischen Zustand zu verlassen, um in die vermeintliche Realität zurückzukehren. Die Tragik dieses Freitods wird gesteigert durch Cobbs Enthüllung, Urheber des Zweifels gewesen zu sein, den dunklen Gedanken erst gepflanzt zu haben – eine Schuld, die schwer wiegt und erst nach adrenalingeladenen Verfolgungsjagden durch mehrere Traum- bzw. Bewusstseinslevels oder unzählige Filmminuten ans Licht tritt – the stronger the issues, the more powerful the catharsis.

Trotz Ansätzen psychologischer Traumarcheologie oder kathartischer Reisen ins Innere bleiben die philosophischen Anregungen, siehe Epistemologie, Leibniz etc., an der Oberfläche, virtuelle Realitäten, polyperspektivisches Erzählen oder Traumsymbolik wurden schon zur Genüge im Bereich filmischer und literarischer Science Fiction bearbeitet, Regisseur Nolan schnürt daraus ein vor allem visuell ansprechendes Paket, welches in den Übergängen zwischen den unterschiedlichen Traumlevels und parallelen Zeitlichkeiten innovative cinematographische Wege beschreitet. Die Dramaturgie des Traums ähnelt dabei leider, trotz der anfangs von Dicaprio versprochenen Unberechenbarkeit und fantastischen Unendlichkeit der Möglichkeiten, abermals dem traditionellen Vokabular des Hollywood Action- Thrillers. So wehrt sich das Unterbewusstsein des Träumenden gegen den spionierenden Eindringling durch militärische Aufrüstung, Autoverfolgungsjagden und Waffenkämpfe auf Jetskies in der Antarktis, mit Maschinengewehrgeratter im Ohr fragt sich der eine oder andere Zuschauer, ob so mancher psychologischer Konflikt vielleicht auf andere, subtilere Weise veranschaulicht worden hätte können. Am Anfang und Ende dieser komplexen Geschehnisse stehen subjektive Bedürfnisse, die wirtschaftlichen Interessen des einen, die familiären Wünsche des anderen – ob wir nun in einer von vielen Welten leben oder die Realität in Wahrheit ein virtueller Traum ist, während unsere Körper an irgend eine universelle Maschine angeschlossen sind und dieser als organische Energiespender dienen, diese Grundbedürfnisse konstituieren uns - so bleibt auch dieser Film eine Suche nach Identität, ausgedrückt durch die Positionierung in einer Beziehung, im wirtschaftlichen Machtgefüge, in einer konstruierten Realität – Such stuff as dreams are made on.

2010-07-21

because i nomi. (und zwar klaus)

wer gestern in den genuss der berlinale-preisgekrönten-doku "the nomi song" am wiener rathausplatz kam, hat heute gelsenstiche und immer noch einen ohrwurm. fast ganz bestimmt. oder ist irgendwie furchtbar unangenehm bewegt vom tragischen schluss unter der übergroßen aidsschleife...

Andrew Horn, The Nomi Song, 2004 |
Screening am Wiener Rathausplatz, 20. 07. 2010

... am ende des films nämlich (nach viel pseudopsychologie, wenig musik und eigentlich sehr wenig information - dem mythos sein mythos) sang klaus nomi in seiner ausgerechnet letzten performance requiem-like purcells arie "the cold song" (let me let me freeze again) - das elisabethanische kostüm dabei in matching colors mit dem geschmückten rathaus. tiefblutrote dramatik und ungetrübt nur die stimmung der gelsen, die weder die dick in der luft hängende aids thematik noch die zu berge stehenden haare und gänsehäute aufhielt. das schmeichelweiche postum-pathos täuschte jedenfalls nicht ganz über die lauen ausreden der interviewten freunde nomis hinweg, die zum bitteren ende einfach nicht mehr kamen (i called him in the hospital).

auch wenn die doku nicht ganz überzeugte. die kunstfigur nomi tut es doch und ist auch im lady gaga vergleich ganz aktuell nicht uninteressant (vergleiche etwa die analyse cvejics: "klaus nomi offered the exhilarating prospect of total freedom - freedom to build one's own identity independently of any models or of any preexisting normative identities" >>> überhaupt ein schöner artikel über nomi, butler und identität, der auch kritik am ästhetisierend-mythologisierenden narrativ der doku von andrew horn übt: "cvejic, zarko: do you nomi?: klaus nomi and the politics of (non)identification. in: women and music: a journal of gender and culture, volume 13, 2009, s. 66-75" - online hier)

und weil ein video of the day schon länger aussteht: nomi song von klaus nomi

2010-07-18

nicht (ges)eh(en) - video of the day

weil doppelbefruchtungen [inhaltliche sowieso aber künstlerische erst recht] toll sind - weil ihnen doppelt [oder potenziert] intensive auseinandersetzungen vorausgehen - weil doppelt besser hält und das ganze mehr ist als die summe seiner teile:

die künstlerinnen erna serles und greta schneider haben 2009 begonnen mit gedoppelten frauenfiguren geschichten zu erzählen, die einem dialektischen vielfachen von weiblichen perspektiven und sphären entspringen und diese doppel-und-dreifach-bestimmungen auch gleich humorvoll thematisieren. dem franz-naber-determinismus in "lila wünsche" wird so ironisch-leicht begegnet wie in einem anderen video dem himbeerpenis. zur freundlichen erinnerung wünscht ihnen:



mehr getrenntes unter:
http://gretaschneider.at
http://erna-serles.com

mehr gedoppelt-literarisches entsteht gerade unter dem gemeinsamen pseudonym "renga t."

2010-07-15

nicht (ges)eh(en) - video of the day

[neue rubrik, neues glück: video of the day - tagesschau]

wegen seiner stillen poesie aus dem youtube channel von schwarzemilch: "menschen"



geschaffen übrigens von der wunderbaren eva becker - mehr auf http://beckereva.de

nicht ein interview. ein bisschen so veröffentlicht (the drums)

[INDIE magazin No 27]

INSTANTLY GRATIFYING

Der zwangsläufigen (pseudo)philosophischen Besorgnis um Hype oder nicht-Hype entgegnen The Drums, die Band der Stunde, mit bewundernswerter Lakonie – „We'll use the media as much as it'll use us“ – und schnell stellt man fest: Diese Musik ist ohnehin nicht Zeitgeist, sie versucht sich an der Zeitlosigkeit.


2008 in einen „Yes we can“-Optimismus hineingeboren, handelt die erste Single der Drums „Let’s go surfing“ tatsächlich von einem „new kid“ im „big house“ – und auch diesen vier in Brooklyn angesiedelten Dean und Brando Doppelgängern gelang ein beispielloser Start aus der Poleposition: „the shit“ heißt man sie nun medial allerorts, oder besser „the cat’s pyjamas“, um gleich beim Slang der 50ies Idole der Band zu bleiben. Dabei nahm alles mit einem harmlosen Bilderaustausch zwischen den Ferienlagerfreunden Jonathan und Jacob seinen Anfang, bis die zunächst rein visuelle Bandfiktion schließlich zum handfesten ästhetisch-musikalischen Retropop-Konzept heranwuchs. Prompt folgten eine befeierte Residency an der Lower East Side inklusive religiös-begeisterter Tanzmengen, ein nicht enden wollendes Medienecho zum neuen Jahrzehnt und Awards vor dem Erscheinen des ersten Albums.
Wie selbstverständlich und aus purem Eigensinn gehen The Drums eine musikalische Wahlverwandtschaft ein: Ein zutiefst melancholischer Grundton in Anlehnung an The Wake und andere britische Factory Bands der 80er wird übersprudelt durch sonnig-amerikanische 50er Jahre Doo-Wopstimmung. Wichtig ist die Refokusierung auf den Song in seiner simpelsten, melodisch-klassischsten Form. So ist auch das Video zur neuen Single My Best Friend in Eigenregie gedreht worden, unverfälscht und ohne Schnitt und Schnörkel. Dazu sind die College-Shirts, die sie tragen, ironischer Kommentar in Richtung manch anderer klugscheißender Bandkonkurrenz. Sänger Jonathans infektuös klatschende, jitter- und jivende Bühnenpräsenz ist genauso ernst, ehrlich und geradeheraus wie unser Gespräch mit den vier Drums: In einem ehemaligen 50er Jahre Ostberliner Kult-Kino diskutierten wir mit der Band über Capes, Ikonen und warum sie lieber so richtig langweilig wären...


Jonathan and Jacob, could you tell us the anecdote about how you met each other at summer camp and what you thought of each other back then?
Jacob: I thought he was really tall because he had hit a growth spurt before I had. So he was about a foot and a half taller than me and he thought I was a big freak..
Jonathan: He wouldn't leave the house without a cape on.
Jacob: And I would always wear bow ties. So... I heard him playing Kraftwerk and I just walked over and said, „Who's playing this?“, and he said „I am“, and I said, „Well then we are best friends, if that's okay“, and he said it was and we've been best friends ever since.
Jonathan: It was refreshing to meet someone like him. We were both weirdos in our communities. It was strange that we were both shipped to the same small random summer camp and instantly we bonded over this music that we loved so much. We've kept the relationship alive for a long time.

I read that it was some sort of religious camp too, where kids go to services every day and read the bible. What was it like to grow up in a conservative surrounding like that?
Jonathan: It wasn't weird at the time, because it was all I knew. Both my parents are ministers actually. Looking back, I know I don't wanna be a part of that anymore.
Jacob: A lot of people tell us that the bands we're influenced by are very strange given our age and where we're from. As random and crazy as that is, being influenced by these very obscure European bands, it's even worse when you're in a household where you're not allowed to listen to that stuff. So you're searching for it desperately and then you're hiding it and you feel like you're smuggling something. Maybe this makes it even more exciting.

Much later you two started exchanging ideas about a fictional band. What was the concept and imagery you had in mind? What kind of ideas did you mail back and forth?
Jacob: A lot of it could be really abstract things like pictures of the Olympics from the 50ies to set a mood or a tone. Or maybe we'd find some random garage bands from the 60ies that never got anywhere – and we were like: „Look how cool they look!“.

How do The Drums today differ from that band fiction?
Jacob: I don't think very much at all. I think it all stuck. It definitely has mashed together in its own way. It's a strange way to start a band but I think it gives you a good foundation.

While bands today are mainly concerned with sounding different, you guys try to revive things that have been done before in your own way. What aspects from the past do you use and how do you modernize them?
Jonathan: We don't try to modernize anything. Our influence is both directly and indirectly from the past. What's „new“ about us, is really something that's very old. It's going back to the idea of a classic band writing classic pop songs rather than trying to be edgy, hip and trendy. We're making a point to not be interesting. We actually try to be more boring. Because everyone right now is so obsessed with being exciting and I think that's why we sort of stick out like a sore thumb.

As a main influence you often name girl bands of the 50ies and 60ies. What do you find particularly powerful about these?
Jonathan: We feel like that's when pop music, the fundamentals of a pop song, were invented. They were all short and concise. The best thing about them was that they were so simple, both melodically and lyrically: It was the bare bones of what a pop song is. There was nothing really excessive, all the songs were like 2½ minutes long and they just said what they needed to say in the most simple terms. There's something really exciting about that to us. A lot of people now write lyrics that are overly clever and tricky – we want to go back to the basics: the most simple lyrics joined with the most simple melody. For us, simplicity equals power. When things are a little more clever, they can almost delude the power of what you really want to say... the poetry of it.

You are also referencing actors like James Dean and Marlon Brando. Are these the masculine aesthetics you are aiming at?
Jonathan: Yeah that's that classic iconic sort of thing. We were very influenced by both, bands that we loved and – sometimes even more – by the feeling you get looking at an iconic photograph of James Dean lighting a cigarette or the feeling you get watching an old movie.
Connor: Certain things transcend time. You see them and you don't think „Wow, 1951“ – you just see them and you're already sort of moved or taken to a new place.
Jonathan: That's what we try to do with our music, to bring ourselves to a place. That's what's cool about popmusic, what's our greatest obsession. It's very much like looking at an image of James Dean: It's instantly gratifying (snaps his fingers). That's what we want our songs to be.

Even with the very upbeat songs there's always a slightly adolescent melancholy and despair in your lyrics. Could you describe that feeling and where it comes from?
Jonathan: I think it's just a lack of answers. Probably everyone is really miserable deep down. Maybe I wear it on my sleeve a little more than most people do and I'll probably burn in hell for it, but it all kind of ties back to the music: even saying something like that in an interview... being vulnerable like that. A great pop song to us is extremely vulnerable and lets its guard down. The source of sadness? I think there are so many.
Jacob: Not being content is probably a big contender.
Connor: Being content is pretty depressing too. No one cares about the issues going on in the rest of the world, people are content with their lives and that's pretty dark too... Happiness is sad in a way, you know... (everyone laughs)
Jacob: Dry things can be really wet... (laughs)

Could you tell us what to expect from the upcoming full-length?
Jonathan: Basically, it was all written at the same time we wrote the EP. The EP consists of 7 songs that were a little more summery, a little more joyous-sounding than the rest of the songs. We had about 30 songs we recorded in Florida. So what was left after we put all the songs on the „Summertime EP” were naturally songs that were darker, a little more serious, maybe more somber and introspective. It was all written around the same time so it does very much sound like The Drums. We just finished the album, we wrote it, recorded it, produced it, mixed it all ourselves – it hasn't been touched by anyone else which is exciting for us. What's nice is, that we don't have the pressure like a lot of bands who put something out, get a lot of hype and then have to go in and record a record that's nearly perfect. I'm not gonna say we haven't been hyped at all, you know, because we have, but for us the album's already done and we're really happy with it. It would be great if everyone loved it, but if nobody does, we still love it. That's the most important thing to us. It may sound awful, but this band is sort of rooted in selfishness. Our legacy are the songs we put out, that's what we'll be remembered by, so we have to be completely happy with everything we put out. We've never changed anything because of an outside source. It's always been very concentrated... a very small bubble, a small world we've built for ourselves.
Jacob: As soon as you get an outside influence it waters down the vision we have for this band. We want to keep it as pure as we can. We always know exactly what we want, barely do we discuss things. We all almost psychically know that we all feel the same way about something.

The Drums seem to be about the quest for the perfect pop song. What is the quest for the perfect pop song like?
Jacob: That's a tough question… I feel like we couldn't answer that question for maybe another 10 years or something.

Is it a concept that is even achievable?
Connor: No.
Jacob (at the same time): I think it is. (everyone laughs)
Connor: Things that are achievable are never actually achievable. (towards Jacob) But would you say why you think so? And then I'll agree…
Jacob: I think it's possible and it's achievable because there are a lot of examples of what we consider to be perfect pop songs that you wouldn't want to change anything about. I think it's some sort of weird thing that happens almost spontaneously.
Jonathan: It's a time and a feeling, an urgency and an influx of creativity. We never force anything. We'll never sit down and say: „Today is a day to write a song“. It always has to be natural. I think that's why things move so fast with this band, because nothing is tried, nothing is labored over. All the songs you've ever heard from The Drums were started in the morning, finished in the afternoon, written, recorded and done. We just don't sit around for a week trying to write a song.
Connor: Accidents are important. A lot of times things are unintentional or just fall into place. That's what makes it so special – you could never recreate, you could never construct that, had you been predetermined to do it.

Jonathan once said in an interview that the „Summertime EP” was as Americana as possible. What kind of Americana do you represent?
Connor: We are very visually driven people, there is a lot of imagery, a lot of concepts that the four of us understand. Generally it's that spirit that was born in America in the 50ies and still exists: this rejuvenation, this freeing and almost revolutionary time. So I think that we're trying our best to represent that feeling, that spirit and that place in time.

Since the band has only existed for a short span of time: Were you caught off guard with the attention you receive from the media and do you ever feel like the media could be using you for its own hype purposes?
Jacob: It was kind of shocking to us at first because, as we said, the whole band is kind of rooted in selfishness. We're not trying to please anyone except for the four of us, so that many other people liked the songs, was very surprising to us. I don't know what the media's reasoning is or what the motives are...
Connor: I don't even know if that's relevant. Does it really matter why the media adopts it? We need for people to listen to our music and whatever means necessary to get our music out there. We'll use it as much as it'll use us. We can fill each other's weird, perverse needs.
Jacob: At the same time... We've done hundreds of interviews at this point and very rarely does it feel like the person interviewing us is just assigned to do it. It usually feels like they legitimately like our music and they just want to tell other people about it. It's never felt like part of this machine-beast sort of thing. It's always felt like there's a heart in it and that's a comforting thought.

2010-07-06

nicht (ges)eh(en) - video of the day

i'd rather be a cyborg than a goddess

weil sie (sputniko!) zuerst eine menstruations-simulations-maschine für das royal college of art in london baut (mit allem drum und dran: bluttropfmechanismus und unterleibselektroden zur schmerzsimulation) und dann noch nonchalanter dieses musikvideo dazu dreht:



natürlich war das ganze besonders direkt ansprechend im monatlichen uteruskrampfkampf. aber es blieb dann doch auch nicht so platt wie zuerst gefürchtet (was heißt das jetzt? was ist das? ein empathie-device für männer? stößt uns hier vermutlich überholte bh-verbrennungs-rhetorik sauer auf?) - die cyborgkünstlerin meint das bei allen ironischen kopfnoten ganz ernst und philosophisch in zukunftsperspektiven-richtung: wenn menstruation medizinisch (ohne größere einflussnahme als sie die pille ohnehin darstellt) vermeidbar ist und auf der anderen seite für jeden technisch künstlich simulierbar wird - wer entscheidet sich dafür oder dagegen und wenn wie? und was IST und BEDEUTET menstruation dann? da geht es ganz klar nicht um eine negierung dieser erfahrung sondern um eine diskussion wie sie im zeitalter von cyborgs, postgender und hormontherapie neu gestellt werden muss.

"‘It’s 2010, so why are humans still menstruating?’ As a female designer I had one big question I wanted to solve.
The pill free, bleeding interval was devised when the contraceptive pill first came out, only because it was felt by doctors that women would find having no periods too unacceptable (since the 1960s, taking the pill continuously could have removed periods all together) The doctors may think that women are psychologically attached to their periods, but only humans, apes and bats out of all mammals need to bleed monthly for their reproductive cycle. What does Menstruation mean, biologically, culturally and historically, to humans? Who might choose to have it, and how might they have it?"


mehr unter: http://www.sputniko.com/works/sputniko/menstruation-machine

auch spannend:
sputniko!'s child producing machine
oder sputniko!'s penis-prothesen-selbstversuch (die etwas elaboriertere strap-on version)

2010-06-22

nicht comi(s)c(h) - teil 1

weil das blut konzept (hier) so lang und punktlos war:
nicht comi(s)c(h) - teil 1

sound 1 - panel 1 | sound 2 - panel 2 | sound 3 - panel 3
- für begleitsound bitte klicken -


genauso veröffentlicht (peggy sue - fossils and other phantoms)

[INDIE magazin No 26]

AVAST! PEGGY … WHO?
Wenn das Eis schmilzt und die Schiffe im Hafen losgebunden werden, bringt uns eine frische Brise lyrische Seemannsweisen von Peggy Sue. Die Dreiermannschaft weiß Fabeln zu erzählen so geschichtsträchtig wie wettergegerbte Haut, morsches Holz und „Fossils and Other Phantoms“ – dabei ist ihr Debütalbum mit diesem Titel frisch wie eine gerade gefangene, noch zappelnde Dorade. Ob Schifferklavier, Ukulele oder Glockenspiel, im Ringelreihen werden Instrumente ausgetauscht, und in ritueller Ernsthaftigkeit werden Tamburin, Waschrumpel und Wasserflaschen-Kickdrum bearbeitet. Die Stimmen der Sirenen Katy Young und Rosa Slade steuern sicher durch die See, manövrieren mühelos in schwierigen Quarten und Quinten an scharfen Klippen vorbei. Ihr Gesang ist wie ein windzerzauster Bart, verwoben, verknotet, manchmal hakt und ziept es, aber gerade dieser Filz ist besonders schön. Voller Soul rufen sie die Frohbotschaft „my mama, she gave me these lungs“ in alle Welt. Wunderbar kehlige Leads von Rosa, verschliffene Rhythmen und untergründiges Wiegenlied-Schwanken in den Melodien – all das zieht auch der standhaftesten Landratte den Boden unter den Füßen weg. Und wenn wir jetzt ein paar Metaphern über Bord werfen, Augenklappe und Holzbein ablegen dürfen – die Drei haben mit der Streichung von „and the Pirates“ aus dem Bandnamen zuletzt auch symbolisch ihre aufmüpfigen Piraten vertrieben: Deutlich sind sie in jahrelanger musikalischer
Selbstorganisation herangereift, haben den sicheren Hafen chaotisch-verschrobener Naivität und kindlich-ironischen Songwritings verlassen und schreiben jetzt folkige Balladen direkt durch Mark und Bein. Nachdem sie lange bloß Geheimtipp waren, sind sie mit Wichita Recordings endlich auf internationalen musikalischen Gewässern unterwegs. Offiziell ist das erst ihre Album-Jungfernfahrt. Arrrr.

„Fossils and Other Phantoms“ erscheint am 5. April 2010 auf Wichita Recordings.

2010-06-17

holy s(h)eat!

Marina Abramović, The artist is present,
Foto von Marco Anelli, 2010


vor einigen nächten wach liegend hätte ich mich lieber zeitlich ver-setzt hinge-setzt gehabt. und zwar in die monate märz|april|mai: da hatte das museum of modern art in new york city nämlich einen sitzen: marina abramović - und zwar insgesamt 736 stunden und 30 minuten lang.

Marina Abramović, The artist is present, Day 40|18|55, 420 Min
Fotos von Marco Anelli, 2010

rückblende: schweigend und fast unbewegt sitzt abramović von morgens bis abends in langen, dicken wollroben gegen die absinkende körpertemperatur auf einem einfachen holzstuhl. auratisch, madonnenmantelfarben. mitten in new york city in klausur. ihr gegenüber ein zweiter stuhl, auf dem ihr tag für tag ein individualisiertes moma publikum gegenüber sitzt. immer eine/r, ohne zeitlimit, zumeist abramovićs position reflektierend. medieninteresse und publikum bedingen natürlich selbstdarsteller (und vips wie yoko ono, sheron stone, björk oder lady gaga - die nicht saß). dennoch: der großteil ist mehr oder weniger genuin bewegt [oder - auch ganz super wichtig - schön]. insgesamt werden es über 1,400 begegnungen sein.

Day 40 (08 min) | Day 52 (47 min) | Day 68 (164 min)
Day 22 (17 min) | Day 51 (04 min) | Day 72 (11 min)

jede einzelne minute ist dokumentiert; abramovićs körper wird öffentlich und seine bedürfnisse und versorgungsmechanismen diskutiert (den windelspekulationen wird das konzept eines straff geplanten schlaf- und trinkrhythmus entgegengehalten - offenbar ist all das von großem interesse: everything comes down to pee) - der körperliche grenzgang wird sichtbar am transpirierenden gesicht unter ausschließlich künstlicher lichtbestrahlung, an dem sich endlos ausdehnenden krümmen und beugen von rücken und kopf.

aber - und das ist das eigentlich bemerkenswerte - im vielfachen sehen und angesehen werden entsteht ein dialektisches system der blicke; und: nicht nur sie saß, es saßen alle. ein gegenüber blickt ein gegenüber an - blickt zurück - wird beobachtet, fotografiert, gefilmt, festgehalten. bis jetzt: immer noch angeblickt - blickt zurück. präsenz in jeder hinsicht, rezeption ist produktion ist performance ist direkt und persönlich konfrontiert.
die aktion ist spiegelfläche, voyeurismus, selbstkasteiung - doch auch im positiven: begegnung, innehalten, veränderung und kontinuität in der zeit. vielfach wurde schlussendlich auch dankbar das gefühl von verlässlichkeit rezipiert: wenn man sich in drei monaten auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass abramović im moma saß -

Stefan Lochner, Maria im Rosenhag, 1448 |
Marin Schongauer, Maria im Rosenhag, 1473


- wie das amen im gebet. hagiographisch daher auch häufig die berichterstattung. aber das ist wiederum nichts, was nicht bei abramović angelegt wäre: es fehlt nicht an religiöser symbolik der selbstinszenierung (wenn es eine ist) - farben und gestalt der roben erinneren schnell an marienbilder, als gekreuzigte lichtgestalt erschien abramović schon in "luminosity" (1997), als ritualistische bewohnerin einer triptychonalen mönchsklause in "the house with the ocean view" (2002). im zuge von "the artist is present" bildete sich schließlich eine eingeschworene jüngerschaft die immer wieder kam, fromm saß und die kunde der erleuchtung ins internet trug. gerne zugegeben: abramović braucht neben dem zuseher doch auch immer noch sich selbst als subjekt und objekt der performance. und trotzdem & deswegen heißt es in ihrem performance manifest "an artist should not make themselves into an idol". dieser spagat ist ihr auch unbedingt zuzutrauen, die aktionen sind jedenfalls mit unglaublicher intelligenz und strenge geplant und durchgeführt. eine andere folge daraus: in der ausstellung rundum das spektakel wurden alte performances von re-performern nachgestellt: deutlich scheint es abramović nun also vor allem um die be-erbbarkeit der performance und um die auflösung der ursprünglichen symbiose mit dem performer zu gehen. what happens if the performer dies? wie werden handlung, haltung, aktion und idee zitier- und neu interpretierbar? 2012 soll für die beantwortung dieser fragen das marina-abramović-institut in upstate new york eröffnet werden - hoffentlich lernen die schüler dort sachen wie diese:


Marina Abramović + Ulay, AAA - AAA, 1978


Marina Abramović + Ulay, Rest Energy, 1980

eine absolut eindringliche empfehlung an dieser stelle: den gemeinsamen performances von abramović und ulay nachgehen! auf der suche nach dem dritten selbst zwischen sich, oder der hermaphroditischen symbiose haben sie unter anderem noch so wunderbare dinge wie "breathing in/breathing out" (1977) gemacht: von einem mund in den anderen über 15 minuten lang bis in die bewusstlosigkeit atmen. symbiotischer lungenzustand. aaa - aaa!

und dank eigener restenergie noch ein paar nachsätze:
an artist should not make themselves into an idol.
an artist should not make themselves into an idol.
an artist should not make themselves into an idol.
sagt marina in ihrem performance manifest dreimal, und hätte otto einmal bedenken sollen. der appellative schlussgedanke geht nämlich in eine ganz andere richtung: ich werde nicht in die otto muehl ausstellung gehen, so schmeichelweich sie auch kuratiert sein mag. punkt. die muehl recherche hat eine andere nacht in anspruch genommen und damit ende. pfeilschuss.
und die krystufek ist doof. ha.

2010-06-16

rotten to the GORE

weil sie alle überall so herumbluten (aus aktuellem wm piqué anlass), hier jetzt auch: ruckedigu. people (inklusive mir) looking at blood. [aktualisierung einer nitsch-analyse von 2009]

am anfang steht zumeist eine wunde und damit schon ein ideelles leitbild: caravaggios ungläubiger thomas und mein lieblings emblem (geklaut von mieke bal 2001 - darauf gestoßen durch edith futscher) für forensisches interesse und thematisches - so heißt dann auch bals artikel - "auf die haut, unter die haut" gehen. darunter nämlich finden wir das, was uns in verschiedensten (pop)kulturellen phänomenen und künstlerischen zusammenhängen wiederum von allen seiten anschwemmt:
das blut.

Caravaggio, Der ungläubige Thomas (Detail), 1602 |
Caravaggio
, Die Enthauptung Johannes des Täufers (Detail), 1608

caravaggio sei nicht zuletzt auch in hinblick auf seine 'enthauptung johannes des täufers' genannt: die einzige signatur caravaggios (soweit mir bisher bekannt) ist hier quasi mit dem blut des johannes ausgeführt - was natürlich nur rote farbe ist, suggeriert ein blutiges siegel, ein 'hinüberlangen' der realität des malers in die realität des bildes, in die blutlache des johannes.

blut als [entäußerte] realität per se.

damit ist die wunde offen, das blut also bereits am fließen und ganz zentral muss nun nitsch angedacht werden: wie caravaggio ist nitsch erforscher und regisseur der komplexität von realität - in seinen synästhetischen blut-inszenierungen wird sensuell, malerisch und theatralisch ein ambivalentes spektrum von mystischer religiosität und akutem realismus eröffnet. die aktionen beginnen klinisch weiß, als spiegelnde grundlage einer gesellschaft, deren äußere grenzen mit dem blutroten niederschlag aufbrechen. zentral ist dabei immer das blut als realität per se, das das wort als bloßen vermittler von realität entlarvt und ersetzt (in frühesten fassungen waren nitschs orgien und mysterienspiele ausformulierte theaterstücke, die aktion und damit das blut ersetzten schließlich den text). in verbindung mit messgewand und monstranz wird das blut bei nitsch aber auch - in beinahe gegenläufiger bewegung - zum auratischen bedeutungsträger christlicher tradition.

Hermann Nitsch, das orgien mysterien theater,
122. Aktion im Burgtheater, 2005


weitere ambivalenzen wären noch: exzessive inszenierung des kadavers einerseits, opulente feier des lebens und der ornamentale einsatz von menschen- und fleischmassen andererseits. und: die aufbrechenden grenzen: innen und außen werden unbestimmbar, wenn geöffnete tierkadaver auf passive akteure gelegt und stellvertretend ausgeweidet werden, bzw. aktive akteure sich ganzkörperlich in einen stierrumpf einsetzen lassen.
nitsch provoziert mittels schockeffekt ein treten an die 'ekelschranke' und wirkt somit der verdrängung der tiefe und intensität des empfindungsspektrums durch die zivilisation entgegen. akteure und rezipienten schließen an elementareindrücke einer archaischen vorzeit an, blutige 'entäußerung' ermöglicht zugang zum innersten, es geht - so nitsch 1998 - um "das wesen unserer fliessenden substanz, die sich auf das leben genauso wie auf den tod bezieht, die aufbau, zerstörung und auflösung gleichzeitig ist.“
[2005 war ich teil des chors (also quasi-akteurin) - sah selbst das eincellophanierte burgtheater und 8 stunden blutfluss. unsere cluster-sound-kulisse glich mal schreien, mal atonalen chorälen - und eigentlich habe ich gerne gegen die nitschschen elementareindrücke angesungen. es war tatsächlich ein kraftakt, tatsächlich eine grenzabschreitung und - so distanziert und unpathetisch ich das sagen kann - irgendeine form der entäußerung]

people looking at blood.

weder blutfluss noch -durst sind bislang gestillt, also weiter im text: blut scheint realitätssignal zu sein und realität etwas perzipierenswertes. obviously. nicht so obviously aber in hinblick auf nahezu hyperrealismen wie meatgrinder accident fotos auf rotten.com oder den mann, dem ein gurkenglas im anus zerbrach, der dies filmte und mit 2girlsand1cup-erfolg online stellte. aus dem 'sicheren' kunstraum herausgenommen liegt es nahe, andere rezeptionsmaßstäbe anzulegen. bei nitsch noch als katharsis verkleid- und argumentierbar, werden hier leicht voyeurismusvorwürfe laut. (perverse) lust am schrecken, (perverse) lust am leid dann, wenn das wirkmächtige 'kunstwollen' auszuschließen ist. dennoch: obwohl die fotos auf rotten und mr. gurkenglas nicht künstlerische sondern dokumentarische ansprüche stellen, ist ihre rezeption in jedem fall anders als etwa die einer nitsch aktion? ekelschranken, elementareindrücke, akute realitäten werden evoziert und produziert, folgt dadurch auch entäußerung? zugang zum innersten? eine psychoanalytische lesart würde die popularität dergleicher fotos und videos jedenfalls ähnlich erklären.

und ob forensisch oder voyeuristisch-pornographisch - ungemeines interesse am immer dichteren verhältnis von blut und realismus besteht.

noch ein wort zur darstellung: gerade die dramatisch-filmische inszenierung, das fließen des bluts scheint häufig zentral. rinnen, spritzen, quellen, fließen - alles was die gore ecke hergibt - hauptsache es bewegt sich was [diesbezüglich zu empfehlen: der nicht ganz unbedenkliche französische horror-gore-brachialstreifen 'a l'interieur' (2007)]. spannend wird es dann, wenn gore ästhetik einzug hält in gutbürgerliches amerikanisches tv-hauptabendprogramm: zuletzt gesehen dank des amokläufers im 'grey's anatomy' season 6 finale:


ob der amoklauf erst durch zehnmal so viel blut vom geläufigen krankenhaus blut-konserven-handling differenzierbar und glaubwürdig gemacht werden konnte...? oder ob man sich hier doch auf die blutige erfolgsspur von 'true blood' und anderen vampirserien begeben wollte ('private practice' hat mit einem ersten minderjährigen pathologischen mädchenbeißer bereits oh die einflüsse dieser vampirfiktionen auf die jugend angerissen)... sich cineastischen blut-ergüssen bedienend, steht dieser lustvoll voyeuristische umgang für eine neue fernsehästhetik, passt aber ohnehin bestens da hinein.

was bleibt? ana mendietas [nahe an nitsch ließ sie für "death of a chicken" (1972) blut eines huhns über ihren nackten körper rinnen] fotos der serie "people looking at blood" (1973) als sinnbilder. sie zeigen passanten, die mehr oder weniger irritiert an einer blutlache vorübergehen. so wie dieser blogeintrag.

Piqué, WM Spanien - Honduras, 2010 | Ana Mendieta,
People Looking at Blood
, 1973


wichtiger nachsatz: die fifa hat für all das blutvergießen kein verständnis: die aktuellen fifa spielregeln (2009/2010) besagen: "ein spieler mit blutender wunde hat das spielfeld zur behandlung zu verlassen. [...] das tragen blutverschmierter kleidung ist verboten" - während der wm musste englands verteidiger glen johnson deshalb auch schon nach blutspritzern auf der weißen weste schnell das trikot wechseln, doch als zuletzt piqué im spiel gegen honduras blut spuckte, nützte kein reglement vor der schnellen medialen verbreitung der 'entäußerung'.

und noch ein nachsatz: mario urban hat mich eben auf zwei musikvideos hingewiesen die auf unterschiedlichste weise mit dem medium blut umgehen: das musikvideo von helgi jóhannssonzu zu berndsens 'supertime' in dem gewalt und glück in satirisch/magisch(unheimlich?)-ambivalenter weise verwachsen. und das video von kamisol zu 'hot chocolate + polar bear rug' der super viral brothers: eine "geburt" der band darstellend steigert sich eine ebenso satirisch angelegte bildwelt in ausufernd-drastische gore ästhetik.

"blut ist ein ganz besonderer saft" (mephisto in faust I). dass hier nach aller annäherung doch keine analyse [dialyse] stattfinden konnte sei nach anne von der heiden vielleicht mittels foucault verständlich gemacht: "vielleicht ist das blut im spannungsfeld von macht, bio-politik, kunst und kultur mit michel foucault als eines jener zentralen dispositive der (post-)moderne zu begreifen, das gerade aufgrund seiner anhaltenden wirkungsmacht den horizont für eine genaue analyse verstellt." (2002)

2010-06-11

all the bad gaga girls

Lady Gaga, Still aus dem Musikvideo zu "Telephone", 2010 |
Barbara Kruger, Your body is a battleground, 1989


"you've been a very very very bad girl, gaga" sagt beyonce in telephone. word. sie hat so tief in die diskurstöpfe gegriffen und kräftig umgerührt, dass mir die kochtopfmetapher schon seit tagen unangenehm im hals steckenbleibt. mal schnell hübsch eloquent das phänomen lady gaga erfassen geht nämlich gar nicht, so badass haben sie und ihr kreativteam haus of gaga ideen von performativität, subjektphilosophie und gender(de)konstruktion mainstreamtauglich und dissertationsfüllend gemacht.
es wäre so viel zu sagen und ist gleichzeitig so viel gesagt worden (ausgezeichnet ausführlich und wissenschaftlich unter anderem auf gagajournal.blogspot.com oder über gender parody, product placement und lesbische (stereo)typen im musikvideo zu telephone: katrin horn: performance und pulp ), dass hier gerade einmal der kruger vergleich und das nachdenken über [weibliche] körper als schlachtfelder und crime scenes halbwegs originär stehen bleiben kann. dabei bleibt es bei einer hingeworfenen idee und einem verweis auf eine dritte: maria lassnig. bei der mumok ausstellungseröffnung 2009 machte sie es gaga nämlich vor:

Maria Lassnig, Eröffnung MUMOK, 2009 | Maria Lassnig, Du oder ich, 2005

badassness verkörpern diese großartigen künstlerinnen wirklich. befreiend und richtig intelligent. fernab von plumpen i-kissed-a-girl-katyperries und viktorianischen i-saved-the-best-i-had-for-you-lena-meyer-landruts singt und performed lady gaga ein längst schon ausständiges frauenbild in die geschlechtskategorien der ö3hörer.
die eigene stilisierung zur befreienden grenzgängerin für ihre fans - zur selbstdarstellenden totemfigur [über amy winehouse hatte das the guardian 2007 festgestellt - einleitend übrigens folgende sätze: "amy winehouse has been a bad girl. a very bad girl"] - ist da bestimmt noch die am kritischsten zu bewertende position. und dann kann man auch warnend den akademischen zeigefinger ob der holzhammer-warhol-marketing-methoden heben, aber irgendwie macht das auch nicht glücklicher. das subtilitäts-damoklesschwert gehört abgehängt, schön brav sind nur mehr heidis topmodels.
nur einer ist das ganze viel zu bad geworden: tila tequila warnt als abgedrängte bi-dumpfbacke vor den dämonischen qualitäten gagas. was sie aber gut erkannt hat: "they [...] say it's “ART” but really, it's to mindfuck you".

nicht literatur. genderdisku[r]swerfen einer po[e]s[i]e

[fleischbeschauberichterstattung mit un- und durchfall und getuschten back- and forthlashes]

[posen-onomatopo[e]s[i]e: heidis surround sound küsschen - mpfoah mpfoah]
["jetzt könnt ihr noch 20 sekunden spaß haben"]

folgendes.
wenn wir uns heute nicht verzappen, laufen sie in köln. 3 models für 50.000 nichtmodels im tschömany finale in köln. auf anderem kanal andere für 30.000 andere bei der wm eröffnung in soweto.

genderdiskursforschung treubleibend beginnen wir bei den weiblichkeitsausverhandlungen.
anstoß.
heidi wird angekündigt als deutschlands
erfolgreichster -
schönster -
fröhlichster -
[put a ring on it] -
EXPORTARTIKEL
!!!!
TOR! 1:0 für otto weininger, wunderschön, wie das hier schon beginnt.
[und in sachen IT-girl semantik erschließt sich ein völlig neues feld]

zu baby get shaky after school ooh ooh there you ooh there you baby go crazy break the rules ooh ooh there you ooh there you go go go go go go ooh there you go dackelt heidi mit pudelfrisur übers feld, jodelt superfröhlich nach links und rechts, und erinnert im stehen dann doch frisurentechnisch an alice schwarzer.
wie verhalten wir uns dazu? die schiedsrichterin reagiert humorlos, sieht rot und gibt gelb.

nächste chance: jorge "laufstegtrainer" genderfuck. oder vor palatalem frikativtraining [chhhhhhhchhhhhhchhhhhhh]: "horhe highheels".
vorwärts rückwärts seitwärts hüpft tänzelt stackst quicksteppt phallusträger langhaar auf stöckelschuhen nun wie ein silberfischch[chhhhchhhchhh]en aufs feld.
... heimlich gelüstet es allen nach fallen ...
und dann - gerade als die kamera sensationslüstern auf seine hacken zoomt - fällt der laufstegtrainer tatsächlich aufs feld. zweimal. oi. der vorfall wird nicht weiter kommentiert, aber wir haben alle vor glück in unsere jogginghosen ejakuliert. erstens reimt sich das, zweitens ist es deshalb wahr, und drittens ist jetzt die frau im mann zu boden gegangen.
also TOR eigentlich. 2:0 für eva her[r]man[n].

nach 15 min damit die erste unterbrechung. 10 min knöchel verarzten, chips auffüllen, fernseher verschrotten. das gibt eine saftige nachspielzeit.

also nach südafrika in ein anderes stadion gezapped. selbe euphorie, besserer ton. gerade wird gutmenschentum zelebriert. education beats poverty. education for all. also zeit um über bildungsaufträge und fernsehformate nachzudenken. gottseidank röhrt fergie rechtzeitig ins mikro. where is the lah the lah the lah. erschreckend ungeil. also: back-zap.

dort gerade interviewte mas[sen]turbation: die drei models bleiben aussagefern, streicheln ausschließlich die bäuche der zuseher - "ihr seid so toll leute", "das liegt wohl am publikum". so macht sich auch bei mir das wohlige gefühl von bedeutsamkeit breit - "woohoo" ich bin dabei!
und doppelt zufrieden klopfe ich mir auf die schulter als mir der überkritische postpostpraefeministische gehalt dieses livetickers bewusst wird. was für ein spiel. nach einer vollen dröhnung clever stracciatella bedeutet das irgendwie TOR für mich. 2:1 mittels zwittriger blog-posen. die hoffnung lebt -

- und ist ganz schnell wieder ganz tot. monrose treten in der westlichen burka version auf: weißer ganzkörperanzug nur um den busen ausgeschnitten und genau dort schwarz eingerahmt. TOR TOR TOR. 5:1 für lena meyer-landruth und katy perry und freddy nietzsche. davor dazwischen und danach der noch niemals glaubwürdige heidislogan "und habt spaaaaaaaaaß".

[kritischer reality tv exkurs]
und während eine schärdinger diätkäse werbung eingeblendet wird, rührt sich der clever gouda in meinem darm und der liveticker muss erstmals in seiner geschichte unterbrochen werden. es geht nicht mehr. durchfall. intellektuell und wirklich.
[/kritischer reality tv exkurs]

ich hatte also spaß; zurück am fernsehgerät sagt heidi BLEIBEN SIE DRAN BIS GLEICH. ey. wir bleiben DIE GANZE ZEIT DRAN EY.
zap.
irgendjemand singt schon wieder und einmal ist der pariasek still. einmal einmal. toll.
zap.
zap.
zap.
zap.
zap.

... und nach gefühlten und manifesten stunden stehen heidi und die zwei restmodels vor dem sich orakelhaft aufbauenden cosmopolitan cover. WER wird germanys next topmodel? WER ist sie? WER WER WER?
--- heidi beschwört die lcd wand.

... WIR sind HEIDI!
ÖSTERREICH IST TSCHÖMANY'S NEXT TOPMODEL!
pluralis maiestatis und cordoba am laufsteg in einem.
kann das die bildzeitung bitte jetzt kommentieren? headlinermäßig? danke.

danach immer keine worte sondern viel glitzerkonfetti.

und hier fühlt sich das jetzt eigentlich doch wie ein 6:1 an. für heidi nämlich. denn jetzt hatte ich mich doch kurz gefreut. ups.

habt ihr alle spaß gehabt?
ja, 20 sekunden.

nachtrag: zu heidi als exportartikel ein eben gefundener spiegel artikel von 2008: "weltmeister deutschland. die globale schönheitskönigin."

2010-05-24

konzept: snipcardempathie

Snipcardbretter in Wien wie Darstellungen der stillenden Jungfrau Maria in der Renaissance. In voller Blüte, keusch den Blick gesenkt, die rechte Brust entblößt. Da war jemand dran. Oder Snipcardaussteller wie ein Topless Beach in Rio. Die Oberbekleidung irgendwo zwischen Bacardi Bar und sex on the beach verloren.

SNIPCARDEMPATHIE BIS ZUR VOLLSTÄNDIGEN IDENTIFIKATION
SNIPZOPHRENIE

Es dürfte einer dieser Morgen danach sein, denn ich wache auf und muss mich meines Aufwachens vergewissern. Ich fühle mich unrund. Während sich noch alles dreht, hölzern schmeckt und übel riecht, stellen sich die ersten existenziellen Fragen. Und dann wird mir meine Brettphysiognomie bewusst. Ich bin schwarz, viereckig und nackt. Ich hänge schief an einer Wand, meine Unterkante ist geschunden. Und schlagartig habe ich kein Brett mehr vor dem Kopf sondern statt. Guten Morgen Welt, ich bin das Kunsthallen Schnippbrett und letzte Nacht ist es wieder passiert. Ausstellungseröffnung, wild ausgelassenes Feiern und ich maßloses Stück habe mir einen zuviel hinters Brett gekippt. Dunkel erinnere ich mich an eine schlechte Unterhaltung über Kafka und dreckige Ikea-Witze. Es folgten: Totaler Kontrollverlust gegen Mitternacht, selbstzerstörerische Spendierfreudigkeit und irgendwann war ich all meiner Snipcards beraubt, völlig entblößt und der letzte Gast auf der Party. Dann muss ich eingeschlafen sein. Jetzt fühle ich mich benutzt und leer. Ich versuche mich aus eigener Kraft gerade zu rücken, zwecklos. Bestückt mich jemand?