2010-06-17

holy s(h)eat!

Marina Abramović, The artist is present,
Foto von Marco Anelli, 2010


vor einigen nächten wach liegend hätte ich mich lieber zeitlich ver-setzt hinge-setzt gehabt. und zwar in die monate märz|april|mai: da hatte das museum of modern art in new york city nämlich einen sitzen: marina abramović - und zwar insgesamt 736 stunden und 30 minuten lang.

Marina Abramović, The artist is present, Day 40|18|55, 420 Min
Fotos von Marco Anelli, 2010

rückblende: schweigend und fast unbewegt sitzt abramović von morgens bis abends in langen, dicken wollroben gegen die absinkende körpertemperatur auf einem einfachen holzstuhl. auratisch, madonnenmantelfarben. mitten in new york city in klausur. ihr gegenüber ein zweiter stuhl, auf dem ihr tag für tag ein individualisiertes moma publikum gegenüber sitzt. immer eine/r, ohne zeitlimit, zumeist abramovićs position reflektierend. medieninteresse und publikum bedingen natürlich selbstdarsteller (und vips wie yoko ono, sheron stone, björk oder lady gaga - die nicht saß). dennoch: der großteil ist mehr oder weniger genuin bewegt [oder - auch ganz super wichtig - schön]. insgesamt werden es über 1,400 begegnungen sein.

Day 40 (08 min) | Day 52 (47 min) | Day 68 (164 min)
Day 22 (17 min) | Day 51 (04 min) | Day 72 (11 min)

jede einzelne minute ist dokumentiert; abramovićs körper wird öffentlich und seine bedürfnisse und versorgungsmechanismen diskutiert (den windelspekulationen wird das konzept eines straff geplanten schlaf- und trinkrhythmus entgegengehalten - offenbar ist all das von großem interesse: everything comes down to pee) - der körperliche grenzgang wird sichtbar am transpirierenden gesicht unter ausschließlich künstlicher lichtbestrahlung, an dem sich endlos ausdehnenden krümmen und beugen von rücken und kopf.

aber - und das ist das eigentlich bemerkenswerte - im vielfachen sehen und angesehen werden entsteht ein dialektisches system der blicke; und: nicht nur sie saß, es saßen alle. ein gegenüber blickt ein gegenüber an - blickt zurück - wird beobachtet, fotografiert, gefilmt, festgehalten. bis jetzt: immer noch angeblickt - blickt zurück. präsenz in jeder hinsicht, rezeption ist produktion ist performance ist direkt und persönlich konfrontiert.
die aktion ist spiegelfläche, voyeurismus, selbstkasteiung - doch auch im positiven: begegnung, innehalten, veränderung und kontinuität in der zeit. vielfach wurde schlussendlich auch dankbar das gefühl von verlässlichkeit rezipiert: wenn man sich in drei monaten auf eines verlassen konnte, dann darauf, dass abramović im moma saß -

Stefan Lochner, Maria im Rosenhag, 1448 |
Marin Schongauer, Maria im Rosenhag, 1473


- wie das amen im gebet. hagiographisch daher auch häufig die berichterstattung. aber das ist wiederum nichts, was nicht bei abramović angelegt wäre: es fehlt nicht an religiöser symbolik der selbstinszenierung (wenn es eine ist) - farben und gestalt der roben erinneren schnell an marienbilder, als gekreuzigte lichtgestalt erschien abramović schon in "luminosity" (1997), als ritualistische bewohnerin einer triptychonalen mönchsklause in "the house with the ocean view" (2002). im zuge von "the artist is present" bildete sich schließlich eine eingeschworene jüngerschaft die immer wieder kam, fromm saß und die kunde der erleuchtung ins internet trug. gerne zugegeben: abramović braucht neben dem zuseher doch auch immer noch sich selbst als subjekt und objekt der performance. und trotzdem & deswegen heißt es in ihrem performance manifest "an artist should not make themselves into an idol". dieser spagat ist ihr auch unbedingt zuzutrauen, die aktionen sind jedenfalls mit unglaublicher intelligenz und strenge geplant und durchgeführt. eine andere folge daraus: in der ausstellung rundum das spektakel wurden alte performances von re-performern nachgestellt: deutlich scheint es abramović nun also vor allem um die be-erbbarkeit der performance und um die auflösung der ursprünglichen symbiose mit dem performer zu gehen. what happens if the performer dies? wie werden handlung, haltung, aktion und idee zitier- und neu interpretierbar? 2012 soll für die beantwortung dieser fragen das marina-abramović-institut in upstate new york eröffnet werden - hoffentlich lernen die schüler dort sachen wie diese:


Marina Abramović + Ulay, AAA - AAA, 1978


Marina Abramović + Ulay, Rest Energy, 1980

eine absolut eindringliche empfehlung an dieser stelle: den gemeinsamen performances von abramović und ulay nachgehen! auf der suche nach dem dritten selbst zwischen sich, oder der hermaphroditischen symbiose haben sie unter anderem noch so wunderbare dinge wie "breathing in/breathing out" (1977) gemacht: von einem mund in den anderen über 15 minuten lang bis in die bewusstlosigkeit atmen. symbiotischer lungenzustand. aaa - aaa!

und dank eigener restenergie noch ein paar nachsätze:
an artist should not make themselves into an idol.
an artist should not make themselves into an idol.
an artist should not make themselves into an idol.
sagt marina in ihrem performance manifest dreimal, und hätte otto einmal bedenken sollen. der appellative schlussgedanke geht nämlich in eine ganz andere richtung: ich werde nicht in die otto muehl ausstellung gehen, so schmeichelweich sie auch kuratiert sein mag. punkt. die muehl recherche hat eine andere nacht in anspruch genommen und damit ende. pfeilschuss.
und die krystufek ist doof. ha.

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