2010-06-16

rotten to the GORE

weil sie alle überall so herumbluten (aus aktuellem wm piqué anlass), hier jetzt auch: ruckedigu. people (inklusive mir) looking at blood. [aktualisierung einer nitsch-analyse von 2009]

am anfang steht zumeist eine wunde und damit schon ein ideelles leitbild: caravaggios ungläubiger thomas und mein lieblings emblem (geklaut von mieke bal 2001 - darauf gestoßen durch edith futscher) für forensisches interesse und thematisches - so heißt dann auch bals artikel - "auf die haut, unter die haut" gehen. darunter nämlich finden wir das, was uns in verschiedensten (pop)kulturellen phänomenen und künstlerischen zusammenhängen wiederum von allen seiten anschwemmt:
das blut.

Caravaggio, Der ungläubige Thomas (Detail), 1602 |
Caravaggio
, Die Enthauptung Johannes des Täufers (Detail), 1608

caravaggio sei nicht zuletzt auch in hinblick auf seine 'enthauptung johannes des täufers' genannt: die einzige signatur caravaggios (soweit mir bisher bekannt) ist hier quasi mit dem blut des johannes ausgeführt - was natürlich nur rote farbe ist, suggeriert ein blutiges siegel, ein 'hinüberlangen' der realität des malers in die realität des bildes, in die blutlache des johannes.

blut als [entäußerte] realität per se.

damit ist die wunde offen, das blut also bereits am fließen und ganz zentral muss nun nitsch angedacht werden: wie caravaggio ist nitsch erforscher und regisseur der komplexität von realität - in seinen synästhetischen blut-inszenierungen wird sensuell, malerisch und theatralisch ein ambivalentes spektrum von mystischer religiosität und akutem realismus eröffnet. die aktionen beginnen klinisch weiß, als spiegelnde grundlage einer gesellschaft, deren äußere grenzen mit dem blutroten niederschlag aufbrechen. zentral ist dabei immer das blut als realität per se, das das wort als bloßen vermittler von realität entlarvt und ersetzt (in frühesten fassungen waren nitschs orgien und mysterienspiele ausformulierte theaterstücke, die aktion und damit das blut ersetzten schließlich den text). in verbindung mit messgewand und monstranz wird das blut bei nitsch aber auch - in beinahe gegenläufiger bewegung - zum auratischen bedeutungsträger christlicher tradition.

Hermann Nitsch, das orgien mysterien theater,
122. Aktion im Burgtheater, 2005


weitere ambivalenzen wären noch: exzessive inszenierung des kadavers einerseits, opulente feier des lebens und der ornamentale einsatz von menschen- und fleischmassen andererseits. und: die aufbrechenden grenzen: innen und außen werden unbestimmbar, wenn geöffnete tierkadaver auf passive akteure gelegt und stellvertretend ausgeweidet werden, bzw. aktive akteure sich ganzkörperlich in einen stierrumpf einsetzen lassen.
nitsch provoziert mittels schockeffekt ein treten an die 'ekelschranke' und wirkt somit der verdrängung der tiefe und intensität des empfindungsspektrums durch die zivilisation entgegen. akteure und rezipienten schließen an elementareindrücke einer archaischen vorzeit an, blutige 'entäußerung' ermöglicht zugang zum innersten, es geht - so nitsch 1998 - um "das wesen unserer fliessenden substanz, die sich auf das leben genauso wie auf den tod bezieht, die aufbau, zerstörung und auflösung gleichzeitig ist.“
[2005 war ich teil des chors (also quasi-akteurin) - sah selbst das eincellophanierte burgtheater und 8 stunden blutfluss. unsere cluster-sound-kulisse glich mal schreien, mal atonalen chorälen - und eigentlich habe ich gerne gegen die nitschschen elementareindrücke angesungen. es war tatsächlich ein kraftakt, tatsächlich eine grenzabschreitung und - so distanziert und unpathetisch ich das sagen kann - irgendeine form der entäußerung]

people looking at blood.

weder blutfluss noch -durst sind bislang gestillt, also weiter im text: blut scheint realitätssignal zu sein und realität etwas perzipierenswertes. obviously. nicht so obviously aber in hinblick auf nahezu hyperrealismen wie meatgrinder accident fotos auf rotten.com oder den mann, dem ein gurkenglas im anus zerbrach, der dies filmte und mit 2girlsand1cup-erfolg online stellte. aus dem 'sicheren' kunstraum herausgenommen liegt es nahe, andere rezeptionsmaßstäbe anzulegen. bei nitsch noch als katharsis verkleid- und argumentierbar, werden hier leicht voyeurismusvorwürfe laut. (perverse) lust am schrecken, (perverse) lust am leid dann, wenn das wirkmächtige 'kunstwollen' auszuschließen ist. dennoch: obwohl die fotos auf rotten und mr. gurkenglas nicht künstlerische sondern dokumentarische ansprüche stellen, ist ihre rezeption in jedem fall anders als etwa die einer nitsch aktion? ekelschranken, elementareindrücke, akute realitäten werden evoziert und produziert, folgt dadurch auch entäußerung? zugang zum innersten? eine psychoanalytische lesart würde die popularität dergleicher fotos und videos jedenfalls ähnlich erklären.

und ob forensisch oder voyeuristisch-pornographisch - ungemeines interesse am immer dichteren verhältnis von blut und realismus besteht.

noch ein wort zur darstellung: gerade die dramatisch-filmische inszenierung, das fließen des bluts scheint häufig zentral. rinnen, spritzen, quellen, fließen - alles was die gore ecke hergibt - hauptsache es bewegt sich was [diesbezüglich zu empfehlen: der nicht ganz unbedenkliche französische horror-gore-brachialstreifen 'a l'interieur' (2007)]. spannend wird es dann, wenn gore ästhetik einzug hält in gutbürgerliches amerikanisches tv-hauptabendprogramm: zuletzt gesehen dank des amokläufers im 'grey's anatomy' season 6 finale:


ob der amoklauf erst durch zehnmal so viel blut vom geläufigen krankenhaus blut-konserven-handling differenzierbar und glaubwürdig gemacht werden konnte...? oder ob man sich hier doch auf die blutige erfolgsspur von 'true blood' und anderen vampirserien begeben wollte ('private practice' hat mit einem ersten minderjährigen pathologischen mädchenbeißer bereits oh die einflüsse dieser vampirfiktionen auf die jugend angerissen)... sich cineastischen blut-ergüssen bedienend, steht dieser lustvoll voyeuristische umgang für eine neue fernsehästhetik, passt aber ohnehin bestens da hinein.

was bleibt? ana mendietas [nahe an nitsch ließ sie für "death of a chicken" (1972) blut eines huhns über ihren nackten körper rinnen] fotos der serie "people looking at blood" (1973) als sinnbilder. sie zeigen passanten, die mehr oder weniger irritiert an einer blutlache vorübergehen. so wie dieser blogeintrag.

Piqué, WM Spanien - Honduras, 2010 | Ana Mendieta,
People Looking at Blood
, 1973


wichtiger nachsatz: die fifa hat für all das blutvergießen kein verständnis: die aktuellen fifa spielregeln (2009/2010) besagen: "ein spieler mit blutender wunde hat das spielfeld zur behandlung zu verlassen. [...] das tragen blutverschmierter kleidung ist verboten" - während der wm musste englands verteidiger glen johnson deshalb auch schon nach blutspritzern auf der weißen weste schnell das trikot wechseln, doch als zuletzt piqué im spiel gegen honduras blut spuckte, nützte kein reglement vor der schnellen medialen verbreitung der 'entäußerung'.

und noch ein nachsatz: mario urban hat mich eben auf zwei musikvideos hingewiesen die auf unterschiedlichste weise mit dem medium blut umgehen: das musikvideo von helgi jóhannssonzu zu berndsens 'supertime' in dem gewalt und glück in satirisch/magisch(unheimlich?)-ambivalenter weise verwachsen. und das video von kamisol zu 'hot chocolate + polar bear rug' der super viral brothers: eine "geburt" der band darstellend steigert sich eine ebenso satirisch angelegte bildwelt in ausufernd-drastische gore ästhetik.

"blut ist ein ganz besonderer saft" (mephisto in faust I). dass hier nach aller annäherung doch keine analyse [dialyse] stattfinden konnte sei nach anne von der heiden vielleicht mittels foucault verständlich gemacht: "vielleicht ist das blut im spannungsfeld von macht, bio-politik, kunst und kultur mit michel foucault als eines jener zentralen dispositive der (post-)moderne zu begreifen, das gerade aufgrund seiner anhaltenden wirkungsmacht den horizont für eine genaue analyse verstellt." (2002)

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