2012-01-29

The Sleaze of Procrastination. Fadesse 2.0 am Computer

[so veröffentlicht im INDIE no. 29]
3%, 4%, 5%. Ich spüre die göttlich-hypnotische Gegenwart eines buffernden Videos. Draußen ist monotones Finster, die Welt und mein Metabolismus schlafen schon, mein Körper ist seit Stunden Sinnbild der Lethargie: Tief ist er in den Sessel gesunken, Augenlider und Unterlippe hängen schwer. Während das Video wie der brennende Dornbusch lädt ohne fertig zu laden, verhakt sich mein Computertunnelblick hoffnungslos in einschlägige Social Media Sites. Konkret wäre alles mögliche zu tun, stattdessen fröne ich der Langeweile und meinen Ersatzhandlungen von Nichts.

Standardsituation. Hallo heilige Zweifaltigkeit der institutionalisierten Langeweile und Prokrastination. Ich mache nichts und nichts ist das Zentrum meines Begehrens. Es wird nichts getan um etwas zu tun oder umgekehrt. Wir Prokrastinierenden glauben an die Langeweile und widersagen der Systemrelevanz.

Nirgendwo wird das deutlicher als in den YouTube Befindlichkeitschannels von Susi und Klaus Anonymous, den Beichtstühlen dieser Religion 2.0, die ich jetzt Clip für Clip probesitze: Mit großen Augen erklärt Susi, dass ihr Rasierer gut in der Hand liegt, Klaus hat eine Senftube auf seinem Kopf. Susi zieht einen Lidstrich, Klaus hat einen Hamster auf seinem Kopf. Betrachter und VideoLog Betreiber sitzen in gedachter Gleichzeitigkeit auf beiden Seiten des verpixelten Zwischengitters und prokrastinieren, saugen sich als Procrastinater und Procrastinatee parasitär aneinander fest. Spiegelhaft. Jede Stunde wird ein Tag an Videozeit online gestellt – unendlich dehnt sich verbrauchte Zeit auf YouTube. Gähn. Aber: Dem alten Werther hätte das gefallen, der hatte ja damals schon nichts zu tun als auf sich und seinen Herzschmerz zu rekurieren. In ihm begründete Goethe die heute so fetischisierte Selbstdarstellung mangels sonstiger Referenzmöglichkeiten. Mit dem Unterschied: Dazumal blieben Werther die Repliken seines fiktiven Brieffreundes Wilhelm noch erspart, heute wäre er binnen kürzester Zeit von der 4chan-Meute gemobbed und viral gegangen. Wie all die anderen aktuellen 12jährigen Werther-memes übrigens, die mit dem Exhibitionismusangebot nicht umgehen konnten, sich in einen fatalen Strudel von Entäußerung treiben ließen und die leichte Angreifbarkeit ihres Privatesten nicht mitbedachten – wir Prokrastinierenden kennen kein Beichtgeheimnis.

In der nächtlichen Einsiedelei, immer noch ideenlos vor dem Internet und Belanglosigkeiten ausbrütend, ist nur eines besser als die Teilnahme an fremden Langeweilen: die narzisstische Selbstbetrachtung. Ich bin mir ja selbst am interessantesten oder jedenfalls immer voll verfügbar. Zuerst filme ich mit versteckter Webcam wie ich so aussehe vor dem blauflimmernden Licht meines Bildschirms, bis ich die laufende Aufnahme tatsächlich selbst vergesse und fünfzehn Minuten später ein Dokument dieses Entgleitens besitze. Ich sehe mir beim authentischen Vergessen zu, bei der entfremdeten Langeweile und fühle mich total kafkaesk. Dann ein Webcamfoto von genau diesem Gefühl. Vor und nach dem Klick sehe ich meiner Inszenierung vor dem Computer zu. Bin Selbstbild, Wunschbild und Fremdbild zugleich – sogar dreifach determiniert obwohl mir eigentlich einfach nur fad ist. Wow. Ich halte fest, wie das so aussieht, die Langeweile. Von links. Und mit dem Finger in der Nase. Ich morphe Wangen, Lippen, Nase. Simuliere einen linken Haken. Klick um Klick archiviere ich Egosplitter im Selbstbetrachtungsalbum. Ein schneller Blick in den Webcam-Ordner offenbart: Meine Ichikonographien folgen der Ästhetik von Photo Booth: Da reihen sich Caravaggieske Ausleuchtungen vor diffusem Hintergrund aneinander, da gähnen mich Warhol-Serialisierungen meiner Zuckerschnute an. In den Myspaceprofilfotos und Facebookalben dieser Welt sowieso überall das gleiche Bild.

Und wer will das denn eigentlich wirklich noch sehen? Langeweile bei der Produktion, Langeweile bei der Rezeption. Aber das Internet platzt vor Hipster Dos and Donts – unendlich vervielfältigen sich die Ansichten zum Daumenkino. Störrisch hält sich dabei die (Un-)Perspektive des 21. Jahrhunderts: die kalorienbewusste umgekehrte Herrscherperspektive, statt von unten und erhöhend wird von oben abgebildet. Wer hat's erfunden? Dicke Buben oder die Fellatio-POV-Einstellung? Letzteres würde einmal mehr darauf hindeuten, dass die Selbstdarstellung die ganze Zeit schon einer unweigerlichen Autoerotik unterworfen ist – des Hineinspiegelns des eigenen Körpers in sexuelle Zusammenhänge: Die 51 Things I found around my house Videos all dieser random people auf YouTube zeigen mir dann also je 51 Fetische, die weiblichen Selbstinszenierungen von Scheitel bis zum Dekolleté den angelernten männlich-pornographischen Blick. Das macht auch Sinn: Am Zenit der Langeweile, in der absoluten Referenzlosigkeit, bleibt einmal mehr bloß der eigene Körper. Den Versuch der erotischen Vereinigung mit seinem Spiegelbild kennen wir schon von Narziss. Die Konsequenz -

- it's time to masturbate. Ich folge meiner Argumentation und bediene mich in meiner nächtlichen Apathie der traditionellsten und häufigsten Ersatzhandlung. Yes, I'm choking the chicken, spanking the monkey and bashing the bishop while I'm driving Miss Daisy, fiddling the bean, airing the orchid, shucking the oyster and banging the box. 1982 hat Marvin Gaye den intrinsischen Zusammenhang von Prokrastination und Masturbation in "Sexual Healing" besungen: "Please don't procrastinate, it's not good to masturbate". Und die Verwandtschaft geht noch weiter zurück, ist ebenso empirisch belegbar wie kultursoziologisch einleuchtend: Die moderne Leistungsgesellschaft tabuisiert das Nichtstun, das christliche Abendland verdammt die Onanie. Wir, die wir das Wort „Prokrasturbation“ erfunden haben, wir können beides – ona non labora! Und empfinden gleichzeitig dieses in unserer Kultur so lebensnotwendige, jetzt selig potenzierte Schuldgefühl, das wir mit der Muttermilch aufgenommen haben. Nach dem ganzen Schauen dieser Nacht, geht es also endlich ans Eingemachte. Hand und Sexualorgan sind verfügbar und der Orgasmus verspricht die Aufhebung der Langeweile-Zweifaltigkeit im Elysium. Es folgt langwieriges Auswählen der Porno-Menü-Konstellationen auf der Pornowebsite des Vertrauens. Heute eher drei und davon eine älter? Blond, brünett oder im Plastiksackerl? Die überwältigende Fülle ist zwar einmal mehr himmelschreiend eintönig – immer wieder dieselben Strukturen und Bildtraditionen, Stöhn-Konserven und Körperpassformen –, aber ein bisschen läuft die Befriedigung auch über Wiedererkennung because the internet is for porn and bores.

Schneller als gewollt ist alles vorüber, der Bildschirm wird wieder einzig nüchtern-nacktes Element im Raum und Bonaparte flüstert mir ins Ohr: „I know you better than you know yourselves / You stare at me when you touch yourselves / When you watch computer, computer watching you“. Es ist an der Zeit, lethargisch zu nicken. Wie wahr, die Fadesse 2.0 wird televised, gestreamed oder auch nur paranoid als ständig beobachtet – weil vor dem Auge der Webcam sitzend – empfunden. Die technische Selbstreflexion, der Computer als Zwischenmedium zur Ersatzhandlung motiviert das: Sofort ist die Langeweile festgehalten, durch das glory hole Internet verbreitbar und als mediales Produkt ganz easy institutionalisiert und nobilitiert. Das Phänomen Chatroulette ist übrigens die Einlösung dieser Haltung. Wir sind uns nicht zu blöd uns auch live bei der absoluten Prokrasturbation zuzusehen und jeden zusehen zu lassen; ob der nun mitfilmt oder unsere Mutter ist: Einmal zugeschalten klickt man sich durch zwei bis drei stierende Fremde und hunderte gestreichelte und berubbelte Penisse. Das passiert so bei uns daheim wenn uns langweilig ist und es ist in den Entstehungsumständen und Implikationen gar nicht zu unterscheiden vom Badezimmer-Handy-Einarmfoto.

Ich kann mich also bei Chatroulette zuschalten und mich in die Riege der Dauermasturbierer einreihen, ich kann meinen Körper fotografisch abtasten, im Videolog über all diese Erkenntnisse reflektieren, oder einen Artikel darüber schreiben. Es bleibt dasselbe. Ob der eigene Körper beobachtet wird, oder ein fremder. Ob dabei Hand angelegt wird oder nur ein Webcamfoto-Ordner. Das Gebot der Stunde bei Internet-Boredom (weil eh nichts anderes übrig bleibt): Procrasturbate. 6%, 7%, 8%.

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